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Ein nicht ganz deutscher Blick auf die ganz deutsche Einheit

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    Эссе "Не совсем немецкий взгляд на совсем немецкое единство" было написано в 2009 г. по случаю объявленного МВД Германии конкурса студенческих работ на тему "Что нас внутренне объединяет - Германия в 21 в./ Was uns im Inneren zusammenhaelt - Deutschland im 21. Jahrhundert". Эссе публикуется на немецком языке.

  Wenn ich mich an die besondere Atmosphäre der Mitte 80er erinnern will, greife ich zum dunkelroten Wälzer des "Sowjetischen Enzyklopädischen Lexikons", der sich durch sein verbrauchtes Aussehen von den übrigen Nachschlagewerken meiner Hausbibliothek deutlich abhebt. Etliche Artikel sind mit Hervorhebungen und Randnotizen versehen, die ich als Teenager gekritzelt habe - meistens Kritiken an all dem, was ich für Lüge und kommunistische Propaganda hielt. Auch die Landkarten blieben vor der Änderungswut eines jugendlichen Querkopfs nicht verschont: Die Außengrenze von BRD und DDR ist mit einem grünen Filzstift markiert und Deutschland auf diese Weise wiedervereinigt worden. Im Jahr 1987 war ich 13 und unter anderem damit beschäftigt, meine wolgadeutsche Großmutter mit den Fragen über ihr Leben im deutschen Stadtviertel von Saratow zu belästigen. Ja, ich fühlte mich dazugehörig und irgendwie vermischten sich in meinem Kopf bundesdeutsche Einheit, wolgadeutsche Autonomie, Michail Gorbatschow und Heinrich Heine, "Perestrojka" und "Thalatta" - Heines "Meeresgruß" war meine regelmäßige Lektüre am Strand des Schwarzen Meeres in der schon bald nicht mehr sowjetischen Stadt Sotschi. Eine berauschende Zeit war das. Und darum kam der Mauerfall zwei Jahre später ebenso überraschend wie erwartet. Die Bilder von 1989 bargen eine Verheißung der neuen Solidarität, die das ganze Europa umfassen und über Europa hinausgreifen sollte. Deutschland strahlte neue Hoffnung aus; für Wochen und Monate war es ein Kraftzentrum der Welt.
  
  Nach dem Schulabschluss 1991 entschloss ich mich für die Pädagogische Universität, denn ich wollte Geschichtslehrer werden, um in einer Schule im deutschen Autonomiegebiet zu arbeiten. Dass die Deutschen in Russland bald endgültig rehabilitiert und eine 1941 aufgelöste Autonomie wiederhergestellt werden würde, daran hatte ich damals nur geringen Zweifel. Doch erwiesen sich diese Hoffnungen als völlig realitätsfremd: Im Massenbewusstsein der Bevölkerung Russlands blieben die Deutschen - oder eher das, was aus ihnen im Zuge der Verfolgungen und Zwangsassimilation geworden war - eine quasi verfemte Gruppe. "Faschisten", welche ewig für die nicht begangenen Verbrechen büßen mussten. Als die Rehabilitierungskampagne endgültig scheiterte, begaben sich Tausende von Deutschstämmigen in die Bundesrepublik in der Hoffnung, doch noch eine Heimat finden zu können. Die meisten fanden sich vor einer Mauer wieder. Für die "Spätaussiedler" - in Israel übrigens sah man in meinen jüdischen Verwandten trotz ihrer äußerst schlechten Iwrith-Kenntnissen Repatrianten (Heimkehrer) und nicht Aussiedler - für die Spätaussiedler also blieb die Mauer bestehen. Und weil sie in der Sowjetunion gelernt haben, um jedes Stück der ihnen verbliebenen Menschenwürde verbissen zu kämpfen, schätzten viele die Situation exemplarisch falsch ein: Statt sich in die Gesellschaft zu integrieren, gingen manche in die Defensive und verschanzten sich in einem selbsterrichteten Ghetto.
  
  Ich kam nach Deutschland im Oktober 2007, um ein Masterstudium an der Universität Konstanz aufzunehmen. Mein Erlebnis ähnelte dem aus dem Jahr 1989, obwohl von einem jugendlichen Träumer nicht viel übrig blieb. Vielleicht ist das Gefühl eines langgehegten und in Erfüllung gegangenen Wunsches in jedem Alter gleich, oder das Glück - ein weniger pathetisches Wort fällt mir nicht ein - hat immer etwas von naiver Begeisterung in sich. Ich bummelte durch die Straßen und mir war so, als ob ich aus einem Traum in die Realität erwacht war, die den Traum greifbar fortsetzte: Häuser und Gassen, Kirchen und Glockengeläut, etwa spröde ältere Herrschaften und überbetont lockere Jugendliche, dieser sachliche Pessimismus und diese leidenschaftliche Rechthaberei - als kannte ich das alles schon. Und in der Tat kannte ich das, denn dieser Stil war mir durch die Familienüberlieferung vertraut. Ich konnte auch die subtilen Ausgrenzungen und unterschwelligen Sollbruchlinien erahnen, die eine unumgängliche Vorbedingung solcher Kollektivexistenz sind. Ich dachte an die Erbzwistigkeiten zwischen den wolgadeutschen Kolonien wegen ihrer unterschiedlichen Mund- und Lebensarten. Ich erinnerte mich an die raffinierte Überlegenheit, die meine evangelisch geborene, aber nie gläubige Oma Bertha den Katholiken gegenüber empfand. Ich hatte ganz bestimmte Erwartungen und Befürchtungen und täuschte mich nicht: Als Ausländer aus dem Osten begegnet man auch im liberalen Deutschland der buddenbrookshaften Reserviertheit, Respekt vor Distanz und unsichtbaren Grenzen auf Schritt und Tritt. Grenzen - spielerisch leicht oder bierernst und wuchtig - trennen Generationen, soziale Gruppen, Einheimische und Zuzügler, Jura- und Lehramtsstudenten, "die da oben" und "die da unten"... So war es und so bleibt es ungeachtet der stürmischen 68er, der Globalisierung und Multikulti-Visionen.
  
  Vor diesem Hintergrund war ich nicht sonderlich erstaunt, im Sommer 2008 an einem Haus in Konstanz am Bodensee die Aufschrift entdeckt zu haben, die den Unwillkommenen eine Alternative bot: "Ossis raus oder DDR!". Auch diese Grenze also ist präsent und das in der südwestlichsten Ecke Deutschlands. Das Gesehene regte zum Nachdenken an. Vielleicht empfand man die Berliner Mauer nur deshalb so schmerzlich - stellte ich die Überlegungen vor dem Schriftzug an der Wand an - weil sie von außen her aufgezwungen wurde? Kaum gefallen, wuchs die Mauer wieder auf, aber diesmal in den Köpfen der Menschen.
  
  Im Gegensatz zu meinen russlanddeutschen Landsleuten sprachen "Ossis" perfekt Deutsch und kannten die "Wessis" ziemlich gut. Dennoch weist ihre Situation verblüffende Parallelen zu der der "Spätaussiedlern" auf: Die belehrende und herablassende Haltung des reichen Westens stieß auf stolze Ablehnung des oft arbeitslosen oder geringverdienenden Ostens. War das 40jährige Ringen um die deutsche Einheit lediglich ein Kampf um das Recht selber zu entscheiden, wo die nunmehrigen deutsch-deutschen Grenzen verlaufen sollen? Einheit als Recht auf Teilung und Anlass zur Grenzziehung?
  
  Es stimmte etwas nicht mit der Integration des deutschen Ostens und zwar seit der Zeit nicht, als der sich damals noch bis zum Baltikum erstreckende Osten lawinenartig nach Westen abzuwandern begann. Die Unstimmigkeit war immer die gleiche: "Das Problem der Integration einer eigenständigen, durch ältere Daseinsformen geprägten Menschengruppe in eine ‚fortgeschrittenere", egalitäre Gesellschaft". Dieser Satz charakterisiert die Ausgangslage der Deutschbalten in den frühen Jahren der Bundesrepublik, aber er beschreibt ziemlich treffend - mit Ausnahme des Vokabels "egalitär" in Bezug auf Westdeutschland vielleicht - auch Integrationsschwierigkeiten der Ex-DDR-Bevölkerung. Man ist oft geneigt, allzu sehr auf wirtschaftliche Diskrepanzen zu fokussieren und kulturelle Differenzen zu unterschätzen, die im Osten - ob durch den traditionalistischen Landadel oder die konservative Parteinomenklatur eingeprägt - durchaus eine wichtige Rolle spielen. Der "Osten" behält seine eigene Identität, welche der "Westen" als lästige Rückständigkeit möglichst zügig wegintegrieren möchte. Deutschbalten betraten wohl als erste den steinigen Weg zur Einheit, die alle Ostdeutschen nach ihnen begehen mussten: "Zwar haben weder die sog. ‚Phasenverschiebung" in ihrer sozialpolitischen Entwicklung und Depossedierung zu verhindern vermocht, dass sie sich sehr schnell und erfolgreich in die bundesdeutsche Leistungs- und Wohlstandsgesellschaft integrierten. Aber dieser Prozess wurde begleitet von Überlegungen über den Sinn der Erhaltung der angestammten Art in den neuen Verhältnissen". Diese "angestammte Art" - die übrigens an Glaubwürdigkeit verliert, sobald man sie politisch zu instrumentalisieren versucht - spaltet Ost und West tiefer als die Kulturgrenzen kaschierende wirtschaftliche Ungleichheit.
  
  Die Integrationsodyssee der Ostpreußen veranschaulicht dies mit peinlicher Deutlichkeit. Herbert Reinoss erinnert sich: "Heute kann man auch in Büchern etwas über den ‚beschämenden" Empfang der Flüchtlinge und Vertriebenen im Westen" lesen; wir aber hatten das damals durchzustehen: Dass man uns behandelte wie davor vielleicht Zigeuner, später Türken. Ich weiß noch gut, was für eine Sensation im Dorf die erste Heirat zwischen einem Einheimischen und einem Flüchtlingsmädchen war, nachdem diese Flüchtlinge immerhin schon Jahre neben den Eingeborenen lebten. Es ist kaum zu sagen, wie viel verletzender Gedankenlosigkeit, ja Beschränktheit und auch Böswilligkeit wir damals ausgeliefert waren. Im Nachhinein entdeckt man in jener Überheblichkeit der Einheimischen viele kleinkarierte und lächerliche Züge; damals in der unmittelbaren Konfrontation damit aber hat sie uns ein ums andere Mal beleidigt. Von der ‚Volksgemeinschaft", die die herben Verluste der Menschen des Ostens, die ja eine ‚Bestrafung" aller Deutschen sein sollten, hätte gemeinsam tragen müssen, war in der Regel nicht die Spur" .
  
  Viele Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion haben ähnliche Erfahrungen gemacht, nur dass sie als "Russen" öfters noch stärkerem Ausgrenzungsdruck ausgesetzt waren. Wie die neulich vom Berlin-Institut durchgeführte Studie belegt, ist es um ihre Integration eigentlich gar nicht so schlecht bestellt. Im Januar dieses Jahres berichtete der "Spiegel" über die Studienergebnisse: "Vergleichsweise gut angenommen und eingefügt sind - entgegen vielen Vorurteilen - die Aussiedler. In der zweiten Generation nutzen sie geradezu vorbildlich ihre Bildungschancen: Sie besuchen nicht nur häufiger das Gymnasium und die Universität als ihre Eltern, sondern auch häufiger als die deutsche Bevölkerung" . Etwas rohe Verhaltensweisen, zerrissene Identitäten sowie der Verlust der deutschen Sprache in dieser Bevölkerungsgruppe ist in großem Maße ebenfalls eine Folge der Kollektivbestrafung aller Deutschen. Eine, durch die deutsche Ausdehnung nach Osten geschaffene Schicksalsgemeinschaft mit ihrer mangelnden Kulturkompetenz und ihrem kantigen Wesen gehört aber zur gemeinsamen deutschen Heimat.
  
  Die deutsche Heimat. Dieser Satz lässt mich an die unterschiedlichen Heimatvorstellungen zurückdenken, die ich in meiner Familie, besonders von den Großeltern, mit auf den Weg bekommen habe. Es ist nicht die Heimat meiner Oma Rosa - einer Jüdin, die sich überall dort heimisch fühlen konnte, wo es erträgliches Geld zu verdienen und eine anständige Schule für ihre Kinder gab. Es ist nicht die Heimat meiner russischen Großväter - die sehnsüchtige Weite, wo sich der Einzelne ebenso bedeutungslos wie geborgen fühlt. Nein, die Heimat, um die es hier wahrscheinlich gehen muss, ist die von meiner Oma Bertha: Überschaubar, geordnet und geschützt. Würde jemand wie die Oma Bertha beauftragt, eine Idealgesellschaft zu entwerfen - eine demokratische, aufgeschlossene und multikulturelle versteht sich - so entspräche die Utopie ungefähr der jetzigen bundesdeutschen Realität: Demokratisch, aber mit preußischer Rangordnung im Kern. Zweifelsohne aufgeschlossen, und doch mit sicheren Schleusen und Sieben gerüstet. Selbstverständlich multikulturell, freilich mit notwendigen Abstufungen versehen - von den Menschen mit "Migrationshintergrund" über die "Ossis" hinauf und dann weiter zu den "Wessis" und immer höher über die Wolken, ungefähr dorthin, wo die Walhalla der Deutschen Bank schwebt. Als stützte sich diese Heimat auf ihre inneren Grenzen, als wäre die ewige Teilung condition sine qua non ihres Daseins!
  
  Bedenkt man diese Paradoxie, dann kann sich einer in allem Ernst fragen: Wieso war und bleibt die deutsche Einheit überhaupt möglich? Wie konnten diese Teile zusammenwachsen und - ja eben - was hält das Ganze im Inneren zusammen?
  
  Das Zusammenwachsen gab es wahrscheinlich gar nicht oder in sehr bescheidenem Maße. Deutschland, zunächst als Kulturraum und später als politische Realität, entstand durch die Auflehnung von Einzelnen gegen die kleinkarierte Geborgenheit ihrer Heimat, die ihnen plötzlich zu eng wurde. Der Aufstand gegen Dunkelmännertum, Philisterei, Spießertum - jede Epoche hat eigene Schimpfbezeichnungen für jene tief liegenden Nester künftiger Hochflieger erfunden - war die treibende Kraft für die Einheit. Die Großen hatten keinen gemeinsamen Plan, sie verfolgten unterschiedliche Ziele, häufig bekämpften sie einander erbittert, aber ihre explosive Energie, zusammengeballt in winzigen heimatlichen Welten, erzeugte das multidimensionale deutsche Universum, dessen geistige Grenzen sich nie mit den physischen deckten. Die Namen wie Meister Eckhard und Martin Luther, Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler und Thomas Mann, Otto von Bismarck und Helmut Kohl deuten die Stoßrichtungen jener Kraft an, die sich hinter den Schutzmauern der kleinen Heimat immer wieder ansammelt, um diese Mauern letztendlich zu überwinden. Die Spannung zwischen lokaler und nationaler Ebenen ist in jeder Kultur vorhanden, aber wohl nirgendwo ist diese Spannung so radikal und deshalb so tragisch wie in Deutschland. In keiner anderen Kultur ist Paradoxie der Annäherung durch Distanzierung, Solidarisierung durch Hierarchisierung und Gerechtigkeit durch Disziplinierung so auf die Spitze getrieben worden wie hierzulande.
  
  Dieses Spannungsverhältnis stellt nicht nur Bedrohung dar, sondern bietet eine Chance: Deutschland als das ewige Überwinden von sich selbst ist Zuhause für all diejenigen, die sich aus eigener Zerrissenheit in einem Kraftakt zur Einheit durchzuringen trachten. Diese Dialektik erfordert aber auch Kreativität, durch welche sich die Menschen aus verschiedenen kulturellen Hintergründen in einer geistigen Heimat zusammenfinden: Der polnische Jude Marcel Reich-Ranicki, der in seinem Kanon die deutsche Literatur zusammengefasst hat ebenso wie der Wolgadeutsche Alfred Schittke, der in seiner Dritten Sinfonie die ganze Geschichte der deutschen Musik zum Ausdruck brachte. Wenn es eine Kraft gibt, die Deutschland durch Zerreißproben und Identitätskrisen des 21. Jahrhunderts steuern kann, dann ist es der Mut zur Selbstüberwindung und Kreativität.
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