Mein Grossvater, Wassilij Pantelejewitsch Nezhinsky, wurde 1901 geboren. Im Alter von16 Jahren wurde er in die damalige Zarenarmee einberufen. An die Zeit in der Armee hatte er gute Erinnerungen. Wenn der Grossfuerst in die Kompanie zur Inspektion kam, interessierte sich dieser besonders fuer die Verpflegung der Soldaten. In die Mitte des Feldkochkessels, gefuellt mit Soldatenbrei, wurde eine grosse Schoepfkelle senkrecht aufgestellt. Gott bewahre, wenn der Brei nicht dick genug war und die Schoepfkelle umfiel.
An der Front war der Grossvater nicht. Der Buergerkrieg fing an. Was damals in der Armee geschah, koennen wir jetzt heute besser verstehen. Der Grossvater hat niemanden verraten, hat die Seiten nicht gewechselt, er hat einfach seinen Dienst getan. Von dieser Zeit hat er nicht viel erzaehlt, aber wenn, dann sehr emotionell. Es war sehr interessant, ihn zu beobachten, wenn er den Film "Tichij Don" (Stiller Don) angeschaut hatte. Mit grossem Vergnuegen hat er sich vor den Fernseher gesetzt, um die ersten Serien anzuschauen, wo von der baeuerlichen Lebensart und den Kosakensitten berichtet wurde. Bis zu einem bestimmten Moment, wo man den Anfang der Revolution zeigte. Ab diesem Punkt war er wie ein anderer Mensch. Man muss sagen, dass er trotz seines strengen Aussehens eigentlich ein sanftmuetiger gutherziger Mann war. Doch die Vorfuehrung der revolutionaeren Bewegung klassenbewusster Massen verwandelte ihn in einen furchterregenden, gefaehrlichen Menschen. Er sprang auf, fing an zu schreien, dass dies alles eine glatte Luege sei. Die Stuehle flogen, der Fernseher wurde fast ins Fenster geschmissen, die Familie wurde aus dem Zimmer vertrieben.
Damals wurden wir nicht zu sehr mit Vergnuegungen verwoehnt. Die Entbehrung des Fernsehens waere eine harte Bestrafung gewesen. Aber in diesem Moment hatte keiner gewagt, mit dem tobenden Grossvater zu streiten.
Der Fernseher blieb bis zum Ende der Filmvorfuehrung des "Stillen Don" ausgeschaltet. Der Grossvater beruhigte sich. Nach einiger Zeit wurde "Stiller Don" wieder vorgefuehrt. Opa hat sich wieder mit Vergnuegen vor den Fernseher gesetzt. Und alles fing von Neuem an.
Den Film konnte ich erst dann zu Ende anschauen, als mein Vater eine Wohnung bekommen hat und wir aus dem Haus der Grosseltern ausgezogen waren.
Der Grossvater diente in der Armee bis zum Jahr 1925. Seine Berichte von dieser Zeit waren sehr karg. Oft hat er an den Oberbefehlshaber der Armee erinnert, dessen Namen er nie erwaehnt hatte. Dieser Mann hat ein grosses Ansehen in der Armee genossen. Er wurde denunziert, verhaftet und von der WTschK erschossen.
Waehrend des Kosakenaufstands am Don ist der Grossvater in Gefangenschaft geraten, wie auch seine ganze Kompanie. Wie durch ein Wunder ist er am Leben geblieben. Die Gefangenen wurden bis auf die Unterwaesche ausgezogen. Die aelteren Soldaten wussten das Geld zu verstecken, aber solche Jungs, wie mein Grossvater, haben daran nicht gedacht. Hungrig und gedemuetigt wurden sie durch die Doerfer getrieben. Bei einem Gehoeft haben sie zwei Brotkanten geklaut. In den Augen des Grossvaters konnte man sehen, dass es das schwerste Verbrechen in seinem Leben war. Ich aber denke so, dass diese Brotkanten von gutherzigen Menschen auf ihren Weg gelegt wurden.
Viele Gefangenen wurden hingerichtet. Ein hochrangiger Offizier (ein General, wie Opa behauptet hat) hatte ihn fuer einen Schauprozess ausgewaehlt. Der Offizier hat ihn am Hals gepackt und sagte: "Euch, rotes Gesindel, muss man haengen!" Der Grossvater war weder Roter noch Gesindel. Gesindel war der, der das gesagt hat. Den Grossvater haben die Kosaken gerettet, die bei den Eltern von Grossvater einquartiert wurden und in deren Auftrag ihn schon gesucht haben. Rechtzeitig gefunden, seien sie gedankt dafuer.
Nach der Gefangenschaft kam er in ein Hospital, wo es ihm unausgesprochen geglueckt hat. Er wurde einer Wirtschaftsabteilung zugewiesen. Weiter war er bei der Armee in dieser Abteilung.
Opa hat einmal von Stalins Ankunft in Zarizyn erzaehlt. Die Zaren-Stabswagen, ein Panzerzug vorne, der andere hinten. Die Leibwaechter bis auf die Zaehne bewaffnet. Keiner darf sich naehern. Wann ist der Zug gekommen - unbekannt. Wann er fort fuhr - keiner gesehen. Die Getreidespeicher sind danach leer. In der Stadt - Hunger.
Trotz guter Stellung erkrankte der Grossvater an allen Arten von Typhus, auch an Malaria. Von der Malaria wurde er nach einer Typhusimpfung geheilt. Nach dieser Impfung wurde er bewusstlos und lag so mit hohem Fieber bis zum naechsten Tag. Aber danach hatte er keine Malariaanfaelle mehr.
Nur wenige Leute wissen, dass der junge Sowjetstaat ein paar Jahre fast keine Armee besass. Alle einfachen Soldaten wurden nach dem Buergerkrieg entlassen. Der Grossvater wartete nicht bis zu diesem gluecklichen Moment. Sein Vater berichtete in einem Brief, auf dem Lande gibt es niemanden, um die Felder zu bestellen. In den Kriegsjahren wurde alles geraubt, gepluendert, ruiniert. Das Motto "Raube Zusammengeraubte!" hatte es vielen angetan. Die Leute waren es gewoehnt, nur fuer einen Tag zu leben und nichts zu tun. Der Grossvater hat gekuendigt und wurde fristlos entlassen, jetzt aus der Roten Armee.
Er hat schon vor dem Krieg geheiratet, seine erste Frau war waehrend des Krieges gestorben. Der Grossvater musste wieder von vorne beginnen.
Wie Opa erzaehlte, haben manche "klassenbewussten" Bauern ihr Land verkauft und lebten einige Zeit ohne Sorgen. Danach sind sie Kleinbauern ohne Besitz geworden.
In Militaerdienstzeiten hat der Grossvater anscheinend die Bauernarbeit und sein Land sehr vermisst. Von Natur aus hatte er ein lebhaftes, tatkraeftiges, fleissiges Wesen. Der Grossvater hat meine zukuenftige Grossmutter, Lukeria Zacharowna, geheiratet. Zusammen haben sie lang und gluecklich bis zum Tode gelebt. Oma erzaehlte, dass Opa sich immer beeilte, um frueh morgen als erster zum Feld aufzubrechen. Sie selbst, mit ihren Buendelchen, hatte sein Fuhrwerk spaeter nachgeholt, das gemaechlich zu dem Feld rollte. Der Grossvater hat niemanden gedraengt, aber auch auf keinen gewartet. So ist er bis zum Tode geblieben: unabhaengig und fleissig. Es war die gluecklichste Zeit ihres Lebens.
Der Grossvater mochte die Pferde sehr. Oma erinnerte sich, dass er die Pferderennen gewonnen hatte. Mir hat er so etwas nie erzaehlt. Alles, was ich von dieser Lebensperiode ihres Lebens weiss, habe ich von der Oma erfahren. Nur einmal hat sie sich erlaubt von jenem Leben zu erzaehlen. Andenken an die ganze Generation war ein Tabu.
Im Jahre 1937 wurde der Grossvater denunziert. Ich habe die Anzeige gelesen. Gott sei gnaedig zu diesem Mann. Noch heute wissen diese Leute nicht, was sie tun. Die so genannte "Trojka" hat Gericht gehalten. Der Grossvater hatte einen Schutzengel, der ihn auf Lebenswegen gehuetet hat. Einer aus "Trojka" hat fuer ihn gestimmt. Mit seiner Familie wurde Grossvater "nur" wie ein "Kulake" und "Staatsfeind" nach Kasachstan vertrieben. Das Wertvollste, was sie mitnehmen konnten - "Samowar", eine Teemaschine. Dieser "Samowar" rettete die ganze Familie vor grausamer Kaelte im Winter. Vor der Arbeit hatte der Grossvater seine Frau mit Kleinkindern neben geheiztem Samowar eingehuellt, und wenn er zurueck kam, hatte er sie frierend gefunden. Die ersten Jahre in Kasachstan lebten die Vertriebenen in nicht geheizten Erdhuetten, die sie selbst ausgegraben haben. Der Grossvater hat als Grubenstreber gearbeitet und von der Arbeit hat er Spaene und kleine Holzkloetzchen mitgebracht, um den "Samowar" zu heizen. Um die Windeln meiner Mutter zu trocknen (sie war ein Jahr alt), musste Oma sie an den eigenen Leib wickeln. Ihr war es gelungen meine Mutter und meine Tante zu retten. Ein Junge hat es nicht ueberlebt. Der Grossvater war sehr traurig, weil seine Linie im Nezhinsky-Geschlecht unterbrochen wurde.
Einmal ist ein Unfall in der Kohlengrube passiert, von seiner Brigade waren alle umgekommen, der Grossvater hatte einen Wirbelsaeulenbruch erlitten. Ihn hat die Jugend gerettet und dass er fast ohne Bewegung gelegen hat. Der Bruch hat sich gluecklich geheilt.
Danach hat der Grossvater andere, leichtere Arbeit auf der Baustelle bekommen. Es war Akkordarbeit. Um mehr Geld zu verdienen, haben die Erbauer der zukuenftigen Stadt Karaganda staendig Ueberstunden gemacht. Offiziell war das verboten, aber die Bauleitung hat die Augen verschlossen. Der Grossvater hat sich oft an den Stadtbauverwalter erinnert, der im Laufe des Tages seine zahlreichen Baustellen bereist hat, im Sommer - auf dem Trittbrett eines Lastwagens, im Winter - auf Ski, sich an den Bord in gleicher Richtung fahrenden Lastwagen festhaltend.
Der Grossvater war bei dem Bau "Magnitka" und der "Neuen Stadt". Am Wochenende hat er Baugruben fuer die kuenstlichen Seen in der Parkanlage der kuenftigen Stadt geschaufelt. Der Park wurde "Namens WLKSM" genannt, und die Seen nannte man poetisch: "Grosse"- und "Kleine Riza". Die Baugrube war nur dann fertig, als die Bagger eingesetzt wurden.
Im Rentenalter hat Grossvater weiter als Waechter gearbeitet. Er hat bis zu seinem Tode gearbeitet. Die Rente war klein und die Grossmutter hat noch weniger bekommen, fast nichts. Sie lebten vom Schrebergarten, wo sie Gemuese zuechteten und dann auf dem Markt verkauft haben. Marktverhaeltnisse gab es damals nicht und sie wurden als Spekulanten beschimpft.
Ich erinnere mich oft an das Haus des Grossvaters, das er mit eigenen Haenden gebaut hatte. Dort war eine Tischlerwerkstatt, wo ich oefters steckte. Ich habe mal was abbekommen, wenn ich ohne Erlaubnis seine Lieblingswerkzeuge nahm. Aber das hat mich nicht abgeschreckt.
Ich mochte es sehr den Sonnenaufgang frueh morgens zu beobachten. Unter einstoeckigen Haeusern war es moeglich. Die Steppe war nah. Da hat man Kartoffeln gesetzt. Wenn wir aufs Feld kamen, um dem Grossvater zu helfen, war schon in der Regel ein Drittel Land umgegraben oder ein Drittel Kartoffelernte ausgegraben (abhaengig von der Jahreszeit).
Unsere Familie war gross und ich wurde fuer den ganzen Sommer zu den Grosseltern geschickt. Da wartete auf mich die Freiheit, Freunde und sorgloser Zeitvertreib.
Ich frage mich oft, wie es den Grosseltern gelungen ist zu ueberleben. Oma hatte die Pneumonie im Jahre 1937. Meine Schwiegermutter konnte kaum glauben, dass es moeglich war bei solchen Verhaeltnissen zu ueberleben. Sie konnte es nicht glauben, weil sie selbst diese Zeiten erlebt hat. Aber ich kenne die Antwort. Ihre Liebe hat sie gerettet. Der Grossvater hatte Angst wieder seine Familie, seine geliebte Frau zu verlieren, seine Kinder. Und die Grossmutter - ihren zweiten, geliebten Mann. Ihr erster Ehemann ist im Buergerkrieg gefallen. Sie waren Schutzengel fuereinander. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Oma jemals dem Grossvater widersprach, oder auf jemanden die Stimme erhob. Wir, die Enkelkinder, haben unseren Opa geliebt, sein Wort war fuer uns wie Gesetz. Und die liebevollen Worte der Grossmutter hatten grosse und magische Kraft sogar fuer den Grossvater.
Grossvaters Augen erloeschten, als die Grossmutter starb. Er hat nicht ueber sein Schicksal geklagt, hat keine Traene vergossen. Er hat nur mich gebeten die erste Nacht nach der Beerdigung bei ihm zu uebernachten. Er fuerchtete diese erste Nacht der Einsamkeit. Mich habe irgendeinen Grund gefunden, um abzusagen. Der Grossvater hat nicht darauf bestanden.
Er hat ein Alter von 85 Jahren erreicht. Bis zum letzten Tag hat er gearbeitet. Der Grossvater hoffte auf einen leichten Tod, wie sein Vater, unerwartet. Aber sein Sterben war schwer. Er hatte einen Schlaganfall erlitten. Sein Kopf fing an zu versagen. Er wurde sich nicht immer bewusst. Sein Leidensweg in den damals angesehenen Kliniken war wie die Hoelle fuer ihn. Ich konnte es nicht ertragen und sagte der Mutter scharf: Lassen wir es sein, er moege in Wuerde sterben. Seine Kraefte haben allmaehlich seinen in Arbeit gehaerteten Koerper verlassen. Er hat unter Entwaesserung gelitten. Seine Lippen ausgetrocknet, die Wangen eingefallen. Wir haben ihn aus Loeffelchen mit abgekochtem Wasser getraenkt. Das Essen konnte er nicht einnehmen. Ich hatte eine junge Familie und habe mich zwischen Arbeit, Familie, Datscha und Grossvater aufgerieben. Fuer den Kummer blieb keine Zeit. Aber mein Kissen war morgens verdaechtig feucht. Ich schaeme mich nicht das jetzt zu gestehen.
Ich kenne die Minute, als der Grossvater starb. Meine Eltern haben mich nicht angerufen, aber ich weiss trotzdem, wann es geschah. Bei der Beerdigung weinte ich nicht. Das war ein ganz anderer Mensch, genauer gesagt, es war eine Huelle, ein Leichnam. Seine Seele ist auf eine Reise gegangen.
Wenn ich mir in Gedanken eine Reihe von menschlichen Vorbildern aufbaue, ist auf dem ersten Platz mein Grossvater. Auf dem Zweiten - mein Vater, der hinter sich den Krieg und den Fernen Osten hat. Am anderen Ende schleppe ich mich. Meine lieben Soehne, welchen Platz nehmt ihr ein?