Ich wohne jetzt in Deutschland, obwohl ich in der Sowjetunion geboren wurde. Meine Muttersprache ist Russisch. Dieses Buch schreibe ich in deutscher Sprache. Der wichtigste Grund dafÝr ist dieser, dass mein Enkel Deutsch besser versteht, als Russisch. Meine Erinnerungen sind ihm gewidmet. Vielleicht kÆnnen meine Erfahrungen fÝr ihn nÝtzlich sein.
2. Die Kindheit.
Meine Erinnerungen Ýber mein Leben vor dem 2. Weltkrieg sind nebelhaft und bruchstÝckhaft. Vor meinen Augen steht unser Zimmer, wo wir zu dritt mit meinen Eltern wohnten. Rechts von der TÝr stehen zwei Betten - das Bett meiner Eltern und meines, links - ein kleiner KÝchentisch und ein Kleiderschrank, eine Couch und ein BÝchergestell, unter denen ich meine Spielzeuge verbarg. Zwischen zwei Fenstern stand ein BÝfett mit dem Spiegel, der das ganze Zimmer widerspiegelte und mich unendlich faszinierte.
Ich erinnere mich an die Besuche meiner Großeltern (die Eltern meines Vaters). Sie brachten mir ausgetrocknete Brotkrusten und Sauergurken, die fÝr mich die beste Leckerei war. Ab und zu kam zu uns unser Hausarzt, der wegen meinem Asthma da war. Die schrecklichen AnfÄlle mit dem starken Husten und Atemnot quÄlten mich sehr.
Auf dem Boden spielte ich gerne mit meinen Spielzeugen, meistens mit Fahrzeugen, Panzern und Soldaten. HartnÄckig kÄmpfte ich gegen die Faschisten (ich glaube, dass das die Zeit des BÝrgerkrieges in Spanien war).
Noch ein Bild ist mir vor Augen. Ich sitze auf dem Fensterbrett und esse die gesalzten StrÆmlinge mit Zwiebellauch. Im Hof spielt die Blasmusik. Das war ein Hausbaufest.
Ich erinnere mich auch an meine Kinderkrippe. Da hatte ich mein SchlÝsselbein zerbrochen, als ich von der Rutschbahn gefallen war.
Meine Eltern waren jÝdischer Abstammung aber nicht religiÆs. Bei uns zu Hause sprachen wir russisch. Darum verstand ich jÝdische Sprache kaum. Meine Großeltern von beiden Seiten waren glÄubige Juden und sprachen miteinander JÝdisch. Ich erinnere mich an ein Fest. Vielleicht war das Passah. Die ganze Familie saß am feierlichen Tisch. Mein Großvater sprach ein Gebet aus. Ich verstand kein Wort. Deshalb fragte ich ihn: "Was erzÄhlst du, Opa?". Er antwortet mir listig: "Das MÄrchen Ýber RotkÄppchen!". Alle lachten, sogar ich.
Als ich 3 Jahre alt war, fuhren wir nach Tschitschelnik, wo meine Tante Anna mit ihrer Familie (ihr Mann Isaak und Sohn Efim) und mein Großvater Boruch (MÝtterliche Seite) Urlaub zusammen machten. Dort lernte ich meinen Vetter Efim kennen.
Damals konnte ich nicht wissen, dass wir mit Efim auf ganze Zeit eng verbunden werden. Am meistens gefiel mir in Tschitschelnik die Kutsche - Die Fahrt mit dem alten und freundlichen Kutscher Makar. Das brachte uns beiden viel Freude. Das nÄchste Mal traf ich Efim erst im Jahre 1941 nach dem Kriegsausbruch.
An den Anfang des Krieges erinnere ich mich ganz deutlich. Das war am Sonntag. Mein Vater und meine Mutter waren zu Hause. PlÆtzlich raste eine Nachbarin in unser Zimmer und schrie: "Krieg! Krieg mit Deutschland! Heute um 12 Uhr wird Molotov sprechen.". Mein Vater, als wehrpflichtiger, ging gleich zum MilitÄrkommissariat, um sich beim Wehrdienst zu melden. Mutter und ich begleiteten ihn. Dort nahmen wir vom Vater abschied fÝr zwei lange Jahre.
Wir blieben zu zweit in Kiew. In Kiew wohnten auch Vaters Eltern - mein Opa Meusche Isaakovitsch und meine Oma Eva Solomonovna Moldavskiy.
Schon vor dem Krieg wurde man vielen Menschen bewusst, dass die Nazis in Deutschland auf grausamste Weise die Juden verfolgten. Als die Gefahr der Eroberung von Kiew sich nÄherte, wollte meine Mutter fliehen. Sie verzÆgerte aber die Abreise, weil wir noch keine Verbindung zum Vater, der an der Front tÄtig war, hatten. Zudem konnte Mutter meine Großeltern nicht Ýberzeugen, mit uns abzureisen. Mein Großvater traute den GerÝchten Ýber die GrÄueltat der Nazis nicht. Er sagte, dass im Jahre 1918, als Deutschland die Ukraine besetzte, die deutschen Soldaten freundlich zu den Juden waren.
Im Juni und Juli erlebten wir schreckliche Bombardierungen. Mitte Juli 1941 war es fast unmÆglich aus der Stadt abzureisen. Meine Mutter entschied sich zur Abfahrt mit dem Lastkahn. Leider konnte sie meine Großeltern nicht Ýberreden mit uns zu fahren. Sie blieben in Kiew und wurden ende September 1941 in Babij Jar von den Deutschen erschossen.
So begannen fÝr mich die schwierigsten Kriegsjahre.
3. Die Kriegsjahre.
Mit dem Lastkahn fuhren wir langsam Dneperstrom vorwÄrts. Der Lastkahn war mit Menschen ÝberfÝllt. Am meisten waren Frauen mit Kindern und alte Leute dort. Die Nahrung und das Wasser waren knapp. Selten machte das Schiff einen Halt, um zu tanken. Dann versuchten alle, etwas Essen am Ufer zu bekommen. Auf dem Heck des Kahnes stand eine Toilette, die aus hÆlzernen Brettern gebaut wurde. Bei der Toilette stand stÄndig eine lange Schlange von Menschen. Unterwegs passierten wir viele BrÝcken, unter denen unser Kahn fuhr. Die BrÝcken waren von der deutschen Luftwaffe heftig bombardiert. Manche Bomben fielen in der NÄhe unseres Schiffes. Einmal wurde eine Frau von der Toilette (in der sie sich gerade befand) durch die Explosionswelle verschÝttet. Sie wurde aber unverletzt geborgen. Der Schrecken und das Komische gingen durcheinander. Die Fahrt am Fluss dauerte fast eine Woche.
Dann wurden wir in die offenen Eisenbahnwagen (ohne Dach) umgesetzt und in den Norden des Kaukasus geschickt. Das Wetter war schrecklich, es regnete unaufhÆrlich. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mich von dem Regen mit ihrem eigenen Leib schÝtzte. Zudem kamen schreckliche Bombardierungen der Eisenbahnknoten. Bei jedem Luftalarm liefen wir aus den Wagen ins freie Feld weg, um dort Schutz zu suchen. Nach jeder Alarmentwarnung versammelten wir uns wieder in dem Zug, um weiter zu fahren. Besonders schreckliche Bombardierung erlebten wir in der NÄhe der Eisenbahnstation Sinelnikovo.
Schließlich kamen wir zum Reiseziel. Dort wurden alle Menschen unter einheimischen Bewohner verteilt. Meine Mutter und ich wurden von einer Bauernfamilie sehr freundlich empfangen. Ein Borschtsch, die unsere Gastgeberin fÝr uns im Steinofen gekocht hatte, blieb in meinem GedÄchtnis und auf meiner Zunge fÝr immer. Nach zwei Wochen schliefen wir zum ersten Mal im Bett und hatten ein Dach Ýber dem Kopf.
Diese Zuflucht war aber nur vorÝbergehend. Meine Mutter musste eine schwere Entscheidung treffen, wohin sollten wir weiter fahren. In der Stadt Osipenko (jetzt Berdjansk) wohnte die Schwester meiner Mutter Anna mit meinem Großvater (MÝtterliche Seite) Boruch. Ihr Mann musste als wehrpflichtiger Arzt zur Armee gehen. Die Tante selbst war sehr krank und konnte die Familie nicht versorgen. Das machte meiner Mutter viele Sorgen. Deshalb entschied sie nach Osipenko zu fahren. Wieder waren wir zu zweit mit den Eisenbahnlastwagen unterwegs. Nach ein paar Tagen trafen wir in Osipenko ein.
Dort erlebten wir nur wenige ruhige Tage. Onkel Isaak (der Mann von Anna) wurde zur Armee berufen. Die ganze Familie musste nur auf die KrÄfte meiner Mutter hoffen (zwei fÝnfjÄhrige Kinder, ein achtzigjÄhriger Greis und meine kranke Tante Anna). Nach einigen Wochen bestand die neue Gefahr, in die HÄnde der Deutschen zu geraten, denn sie nÄherten sich Osipenko. Schnell flohen wir alle zusammen mit einem Fischerboot quer Ýber das Asowsche Meer nach Ejsk. Unterwegs erlebten die Passagiere und die Besatzung einen schrecklichen Sturm, der unser Schiff fast kentern ließ. Es war ein GlÝck, dass wir am Leben blieben.
3.1. Urjupinsk
Von Ejsk fuhren wir mit der Eisenbahn nach Stalingrad. Dort war die Zentralstelle fÝr Evakuierte. Unterwegs wurden wir an der Eisenbahnstation Tichorezkaja wegen der Infektionserkrankung (Scharlach) meines Vetters Efim abgesetzt. Er wurde mit seiner Mutter ins Krankenhaus eingeliefert. Wir zu dritt, meine Mutter, Opa und ich mussten 3 Wochen im Saal vom Hauptbahnhof wohnen. Nachdem Efim gesund wurde, kamen wir nach Stalingrad. Dort wurden wir aufgefordert, nach Urjupinsk (Stalingradgebiet) zu fahren.
Nach den erlebten Strapazen schien unser Leben in Urjupinsk ziemlich geregelt. Meine Mutter war sofort als ækonomistin in der MilitÄrschule angestellt. Wir bekamen ein großes Zimmer fÝr alle fÝnf. Im Zimmer standen drei Betten, ein großer Esstisch, ein Kleiderschrank, ein KÝchentisch mit einem Unterschrank. Dazu gab ein Ofen fÝrs Beheizen des Zimmers. Efim und ich hatten kein eigenes Bett und schliefen mit unseren MÝttern zusammen. In diesem Raum wurde auch gekocht. Tante Anna war sehr krank und konnte nicht zur Arbeit gehen. Deshalb passte sie auf uns auf. Opa war schon ziemlich alt, aber sehr munter. Er half der Tante mit den Hausarbeiten.
Efim und ich waren 5 Jahre alt und begannen, das Lesen und das Schreiben zu lernen. Tante Anna Ýbernahm unseren Unterricht. Nach ein paar Wochen lasen und schrieben wir fast fließend. Zudem lernten wir auch etwas aus der Mathematik (Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren).
Nach einem Monat bekam meine Mutter fÝr uns zwei PlÄtze im Kindergarten. Diesen besuchten wir bis zu unserer Abreise aus Urjupinsk.
Tante Anna und Mutter versuchten immer wieder unsere VÄter zu finden. Der Erste Brief kam von meinem Vater. Er hatte in der Zentralstelle fÝr Evakuierte in Stalingrad unsere Adresse herausgefunden.
In diesem Brief schilderte er seinen ganzen Kriegsweg. Zuerst war Vater in der Infanterie an der Westgrenze. Er machte den schrecklichen RÝckzug der Roten Armee 1941 mit, war aber nicht verletzt. Er fragte, ob wir Ýber das Schicksal seiner Eltern etwas wissen. Zu diesem Zeitpunkt war uns ihr schreckliches Schicksal unbekannt.
Bald bekam auch Tante Anna einen Brief von Onkel Isaak. Er als MilitÄrarzt war in der Epidemiologietruppe beteiligt. Diese Briefe brachten uns erhobene Stimmung und Stolz fÝr unsere VÄter. Wir schrieben ihnen Briefe an die Front, in deren unter anderem unsere MathematikÝbungen eingefÝhrt wurden.
ýbrigens war aber das Leben in Urjupinsk sehr schwer. Lebensmittel war streng rationiert. Wir bekamen Lebensmittelkarten fÝr Brot, Fett, Zucker, Kleidung und so weiter. Jeder, der nicht arbeitete (Alte, Kinder, Kranke) bekamen nur 300 Gramm Brot pro Tag, die Angestellten - 600 Gramm. Wir sollten unsere Kinderkarten im Kindergarten abgeben. Deshalb mussten unsere MÝtter ihr Brot mit uns teilen. Man kann nicht sagen, dass wir richtigen Hunger in Urjupinsk erlebten, aber der Mangel an Nahrung war groß. Von Obst oder GemÝse war fast keine Rede gewesen. Zudem kam der Winter. Wir erhielten zu wenig Holz, um unseren Ofen richtig heizen zu kÆnnen. Deshalb litten wir in der Wohnung an der stÄndigen KÄlte. Der Winter 1941/1942 war sehr hart. Es war schwer wegen starken Frostes, den Weg zum Kindergarten zu schaffen. Efim und ich trÄumten davon, mit dem Schlitten, der mit einem großen Korb mit den Fenstern ausgerÝstet wÝrde, zum Kindergarten zu fahren. Im Kindergarten war es aber warm und gemÝtlich.
Aus diesem Winter erinnere ich mich an das Fest des Neujahres in der MilitÄrschule, wo meine Mutter arbeitete. Dort gab es einen Weihnachtsbaum, Weihnachtsmann (Ded Moroz) und kleine Geschenke mit SÝßigkeiten. Und war sehr, sehr warm. So verging der Winter 1941/1942.
Zu dieser Zeit war die Lage an den Fronten sehr spannend. Die Offensive der deutschen Armee wurde fortgesetzt. Unsere Stadt Kiew war schon lange von den Deutschen besetzt. Die Deutsche Wehrmacht rÝckte weiter nach Osten vor. Große Begeisterung und Mut brachte allen die Nachrichten Ýber zwei schwere Niederlagen der Deutschen bei Moskau. Die Rote Armee und Die Wehrmacht lieferten sich inzwischen blutige Schlachten.
Im Februar 1942 bekamen wir eine schreckliche Nachricht - der Vater von Efim wurde in der Schlacht neben der Stadt Izjum getÆtet. Er war in einer Avantgardetruppe gewesen und wurde auf einem Minenfeld getroffen. Das schrieb uns sein Freund. Die offizielle BestÄtigung bekamen wir nur nach 2 Jahren. Das war ein schrecklicher Schlag fÝr uns alle, besonders fÝr Tante Anna. Ihr Herz konnte diesen Schmerz nicht ertragen. Von Tag zu Tag wurde ihr Zustand schlimmer.
Je nÄher der Sommer kam, desto mehr verschÄrfte sich der Kampf in Stalingrad. Die Deutsche Luftwaffe begann heftige Bombardierungen von Stalingrad. Die deutsche Armee rÝckte nÄher. Erneut bestand die Notwendigkeit der Evakuierung. Meine Mutter entschied nach Kasachstan zu fahren, wo der Bruder einer Freundin von Mutter wohnte. Wir hatten alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen. PlÆtzlich bekam Tante Anna einen Infarkt und starb nach ein paar Tagen im Krankenhaus. Efim wurde eine Weise. Er wurde von meiner Mutter als mein Stiefbruder in unsere Familie angenommen. Seit dem waren wir untrennbar gewesen. Kurz nach der Beisetzung von Tante Anna fuhren wir nach Kasachstan.
3.2. Kasachstan.
An den Weg nach Kasachstan erinnere ich mich kaum. Zuerst kamen wir nach Alma Ata - die Hauptstadt des Kasachstans. Von dort fuhren wir nach Usun Agatsch - ein großes Dorf 60 Kilometer von Alma Ata entfernt. Wir bekamen ein kleines TonhÄuschen auf dem Marktplatz. Dort war nur ein einziges Zimmer mit einem einzigen kleinen Fenster. Im Zimmer gab es einen Steinofen zum Heizen und Kochen. In der Mitte stand eine hÆlzerne SÄule, die die ganze Decke stÝtzte.
Wir schliefen auf 3 improvisierten Betten aus Holzbrettern, Efim mit mir in einem Bett.
Trotz schlechten Wohnbedingungen war der erste Eindruck von Usun Agatsch fÝr uns, Kinder, sehr herrlich. Wir sahen exotische Tiere, die man frÝher nur im Zirkus oder im Zoo sehen konnte (Kamele, Esel). Verschiedene Haustiere (Hunde, Katzen, Schweine, Ziegen und andere) liefen herum. Einheimische Bewohner trugen sehr bunte nationale Kleidung. Um das Dorf standen hohe beschneite Berge. Im Dorf war es aber sehr heiß. Das war die Sommerzeit. Die BÄume, nicht nur in den GÄrten, sondern auch an den Straßen, waren reich mit den FrÝchten behÄngt. äpfel, Birnen, Aprikosen gab es im ýberfluss. Nach dem harten Leben in Urjupinsk sah das alles wie ein Paradies aus. Ein besonders buntes Bild war der Sonntagsmarkt. Viele VerkÄufer lobten laut ihre Waren, auf dem Boden lagen rote, grÝne, gelbe Haufen von Obst und GemÝse. Auf den Theken lagen Fleisch, Fisch, Fladenbrot, trockene FrÝchte (Feigen, Rosinen, UrÝck), Flaschen mit Milch und Stutenmilch. Einheimische Frauen und MÄnner ritten mit Pferden, Eseln und Kamelen hin und her. Mit Erstaunen beobachteten wir, wie die Kasachen Tee ohne Zucker aber mit Zwiebeln tranken. Am Marktplatz erlebten wir einen berÝhmten Mann von Kasachstan - den Akin (Volksdichter) Djambul Djabajev. Der wohnte nicht weit von Usun Agatsch und kam fast jeden Sonntag zum Markt, um fÝr die Leute seine Lieder und Sagen zu singen. Dabei spielte er die Domrah - einen Saiteninstrument.
Meine Mutter wurde als Planungsleiterin der Lederfabrik angestellt. Efim und ich gingen zum Kindergarten. Unser Opa half meiner Mutter im Haushalt. Zu unserer Familie "gehÆrte" auch ein Schwein Namens Maschka, das wir als neugeborenes Ferkel bekamen, um es zu zÝchten. Mit dem Ferkel beschÄftigte sich meistens der Großvater.
Unser Hof wurde von sechs Familien benutzt. Dort standen 6 große Haufen von Torfbriketts, die fÝrs Heizen im Winter da waren. Als Brennstoff fÝrs Kochen wurde Saksaul, eine Art von den krummen BÄumen, und Kurai, ein Art von Beifuss, die in der Steppe wuchs. Im Sommer heizten wir den Ofen in der Stube nicht, sondern benutzten den Äußeren Ofen im Hof, wo viele Kinder herumliefen. Die meisten Kinder, besonders einheimische, waren schwarzhaarig, ich aber rothaarig. DafÝr wurde ich von anderen Kindern beschimpft und beleidigt. Das brachte mir viel ärger. Efim hatte Mitleid mit mir und wollte mir helfen. Einmal nahm er die Asche aus dem Ofen und beschmierte mit ihr meinen Kopf. Ich wurde auf einmal schwarzgrauhaarig. Wir beide waren sehr stolz auf dieses Ereignis. Ganz anders reagierte unser Opa. Er verprÝgelte uns hart.
Zu dieser Zeit war es schwer ein Streichholz zu finden. Es war ein richtiges Problem, Feuer im Ofen anzuzÝnden. Im Dorf wohnten einige Koreaner, die stÄndig das Feuer im Ofen behalten hatten. Jedes mal, als eine Notwendigkeit bestand, das Feuer anzuzÝnden, liehen wir glÝhende Kohle bei ihnen.
Ich erinnere mich an zwei Ereignisse, einen Brand und eine Stierflucht.
Die Bewohner im Dorf bewahrten ihre Heizholz und Kuraj auf dem Dachboden auf. Selbst die DÄcher wurden aus dem Stroh gebaut. Einmal entzÝndete sich Kuraj bei unserem Nachbar. In einigen Minuten stand das ganze Haus in Flammen. Dabei bestand die grÆßte Gefahr, die anderen HÄuser im Brand zu stecken. Die MÄnner von unserem Hof kletterten auf das Dach, um das Haus von den Funken zu schÝtzen. Alle Kinder wurden von einem solchen großen Brand sehr Ýberrascht und gleichzeitig begeistert. Da kam die freiwillige Feuerwehr mit den Rossen, Wasserfass und Pumpe. Der Besitzer und Nachbarn warfen die verschiedenen GegenstÄnde wie MÆbel, Kleidung, Geschirr u.a. raus. Zuletzt gelang es den Menschen, das Feuer zu besiegen. Das Haus war aber komplett abgebrannt.
Im Dorf waren zwei Zuchtstiere berÝhmt. Das waren enorm große, ganz schwarze und ziemlich wilde Tiere. Wenn sie auf der Wiese weideten, hatten die Menschen Angst, sich zu ihnen zu nÄhern. In der Nase trugen sie riesige eiserne Ringe, mit denen sie im Stall angekettet wurden.
Einmal hÆrten wir ein lautes Geschrei im Hof. Efim und ich rasten schnell raus. Im Hof wÝteten beide Stiere. Zuerst zerschmetterten sie den Haufen des Torfes. Nachdem zerstÆrten die Tiere einen Ofen und beschÄdigten eine Hausecke. Viele Nachbarn kamen uns zu Hilfe. Alle MÄnner waren mit den StÆcken oder mit den Heugabeln ausgerÝstet. Sie trieben die Tiere vom Hof auf die Straße weg und jagten sie bis zum Stall. Dort wurden die Stiere wie immer fest gekettet.
Trotz des ruhigen Lebens in Usun Agatsch warteten wir jeden Tag auf die Nachrichten Ýber die Lage an den Fronten. Zu dieser Zeit wÝtete die wichtigste Schlacht des Krieges in Stalingrad, wo die deutsche Armee ihre schwerste Niederlage erlitt. Danach begann die totale Offensive der Roten Armee. Im Sommer 1943 folgten noch grÆßere Schlachten bei den StÄdten Kursk und OrÆl. Das waren die grÆßten Panzerschlachten des 2. Weltkrieges. Nach diesen Schlachten kam die Rote Armee zum Dnepr. Die Befreiung von Kiew nÄherte sich, auf die wir, Kiewer, schon ungeduldig warteten.
In Kasachstan bekamen wir Briefe vom Vater. WÄhrend einer MilitÄroperation wurde er schwer verwundet und in einen Hospital eingeliefert. Dort verbrachte er fast einen Monat. Nach der Genesung wurde er von der Infanterie zum SanitÄtszug als Kommandantenvertreter versetzt. Sein Zug fuhr von der Front nach Sotschi, wo sich viele HospitÄler befanden. Nach zwei Kriegsjahren bekam er einen Urlaub, um seine Familie zu besuchen. Ungeduldig warteten wir auf ihn. Bisher konnte Efim meine Mutter nur als "Tante Asja" nennen. Jetzt begann er mit Stolz unseren Freunden zu erzÄhlen, dass sein Vater von der Front kommt. Er begann ihn schon in seiner Abwesenheit, "Vater" zu nennen.
Nach seinem Ankommen nannte er seine Tante als "Mutter". Seit dem waren wir beide richtige BrÝder.
Vor dem Urlaub hatte Vater ein paar Lebensmittel aus seiner MilitÄrration gesammelt, um uns zu unterstÝtzen. Unterwegs wurde er von den Eisenbahndieben beraubt und kam mit bloßen HÄnden zu uns. Das machte aber nichts aus. Wir waren stolz auf unseren Vater. Bei uns zu Hause sammelten sich viele Menschen, die etwas Ýber die MilitÄrlage oder Ýber ihre Verwandten wissen wollten.
Vater versprach uns, nach der Befreiung von Kiew so schnell wie mÆglich herauszuholen. Dann fuhr er zur Armee.
Aber das Leben in Usun Agatsch wurde von Tag zu Tag schwieriger. Viele Evakuierte kamen dorthin und die Lebensmittel wurden knapp. FÝr unsere Lebensmittelkarten bekamen wir nicht jeden Tag die Nahrung. Vom frÝheren Paradies verschwand jede Spur. Jetzt wussten wir genau, wie richtiger Hunger aussieht. Zudem brachten die BehÆrden die GefÄngnisse aus besetzten Gebieten. Die HÄftlinge konnten nicht mit Nahrung versorgt werden, deshalb wurden sie auf freien Fuß gesetzt. Dadurch brach eine KriminalitÄtswelle aus, besonders DiebstÄhle und Beraubungen waren weit verbreitet. Die Lage wurde noch mit epidemischen Erkrankungen wie Typhus erschwert.
Die Beziehungen zwischen Einheimischen und Evakuierten wurden spannender. Einmal brach am Marktplatz ein richtiges Gemetzel, das drei Tage dauerte. Es gab Tote und verwundete. Nur mit großer MÝhe gelang es der Miliz Ruhe zu schaffen.
Trotz allen Hindernissen war unsere Stimmung hoch. Alle hofften auf Kriegsende. In Usun Agatsch bekamen wir die herrliche Nachricht Ýber die Befreiung von Kiew. Gleichzeitig wurde das schreckliche Schicksal der Juden von Kiew, unter ihnen meine Großeltern, bekannt gemacht. An drei Tagen des Septembers 1941 wurden 33.000 Juden in Kiew im Babij Jar ermordet. Das ließ tiefe Spuren in meiner Seele. Viele Jahre verfolgten mich schreckliche TrÄume, in denen ich selbst als Jude von den Deutschen erschossen wurde.
Im hohen Herbst 1943 besorgte mein Vater ein Erlaubnis fÝr uns, nach Krasnodar zu fahren. Der Weg zurÝck nach Kiew begann.
Meine Mutter machte alle nÆtigen Vorbereitungen zur Abreise. Zuerst wurde unsere Maschka geopfert. Von ihr bekamen wir etwa 40 Kilo Fleisch. Das wurde teilweise fÝr den langen Weg gerÄuchert. Wir ernteten unseren GemÝsegarten. Mais war unsere Ernte. Dieser wurde zur Mehl vermÄhlt. Zum ersten Mal seit vielen Monaten hatten wir genug zu essen. Mutter kochte meistens eine Mamaliga, ein Art von Brei aus Maismehl, mit Fleisch. Es gab bei uns zu wenige Sachen, um sie mitzunehmen. Darum brauchten wir nicht lange zum packen. Vater schickte uns seine Ordonnanz, um uns unterwegs zu begleiten. Kurz vom neuen Jahr fuhren wir nach Krasnodar ab.
3.3.Krasnodar.
Der Weg nach Krasnodar war abenteuerlich. In der Kriegszeit war eine einfache Eisenbahnreise gar nicht einfach. Wir mussten viel male umsteigen. Zu den Fahrkartenkassen standen unendliche Schlangen MilitÄr und zivile BÝrger. Es kÆnnte jedes Mal 2-3 Tage dauern, richtige Fahrkarten zu bekommen. Nicht aber mit Vaters Ordonnanz. Sein Name war Macher. Und er entsprach seinem Namen. Ohne VerzÆgerungen besorgte er Fahrkarten, fand den richtigen Zug, Kochwasser bei den Haltestellen, half uns die Koffer zu tragen. Kurz gesagt brachte uns Macher ohne große Schwierigkeiten nach Krasnodar.
Zu diesem Zeitpunkt hatten viele SanitÄtszÝge, darunter Vaters Zug, ihren StÝtzpunkt im Krasnodar. Gerade bei unserer Ankunft hatte Vaters Zug eine
dauernden Halt in Krasnodar. Wir trafen direkt in die Arme vom Vater. Er brachte uns zum seinen Zug. Es war Silvester und die Besatzung und die Kranken des Zuges bereiteten sich zum Neujahrfest vor. Es wurde richtig gefeiert.
Bei uns war die meiste Aufmerksamkeit. Wir wurden mit Geschenken wie Orangen, Mandarinen, PlÄtzchen, Bonbons, Schokoladen und anderem ÝberschÝttet. Efim und ich waren wie im Traum.
Zwei Tage wohnten wir im SanitÄtszug. Vater, Mutter, und wir, Kinder, schliefen in Vaters CoupÈ, der Großvater im CoupÈ des Kommandanten.
Vater zeigte uns den SanitÄtszug, machte uns mit den Medizinern und Verwundeten bekannt. Alles war fÝr uns ungewÆhnlich und Ýberraschend.
Vater fand in Krasnodar fÝr uns ein Zimmer im Haus eines Armeniers. Wir zogen vom Zug in diese Wohnung um. Vaters Zug fuhr ab. Wir blieben in Krasnodar. Mutter bekam eine Stelle in der Schuhfabrik ihrem Fach entsprechend. Fima und ich besuchten einen Kindergarten. Opa blieb zu Hause und half im Haushalt.
Von Anfang an sahen wir unsere Anwesenheit in Krasnodar als vorÝbergehend an. Wir strebten zurÝck nach Kiew. Das war die Zeit des Optimismus. Die Rote Armee fÝhrte ununterbrochen die Offensiven an allen Fronten. Fast jeden Tag gab es Saluten zur Ehre verschiedenen Truppeneinheiten, wegen ihrer Erfolge.
Trotzdem war das Leben im Krasnodar ziemlich hart. Es gab eine strenge Rationierung von Lebensmitteln. Kurz zuvor wurde Krasnodar von Deutschen befreit und trug noch viele Spuren des Krieges. Viele Straßen wurden mit den PanzergrÄben gesperrt. Dort blieben nur schmale Pfade fÝr Passanten. Wenn es regnete, wurden diese Pfade unpassierbar. Einmal verlor ich meine GummiÝberschuhe in diesem Sumpf und konnte ihn nicht herausziehen.
Kurz nach unserer Ankunft erkrankte schwer unser Opa. Er bekam an den FÝßen unzÄhlige BrÄnde, die zeigten sich als unheilbaren. Er war schon ziemlich alt und seine KrÄfte waren nach allen Strapazen zu Ende. Nach einigen Tagen starb er und wurde im Krasnodar beigesetzt.
In Krasnodar hÆrten wir das erste Mal die Hymne der UdSSR. Am 23. Februar feierten wir im Kindergarten den Tag der Roten Armee und der Flotte. Das Fest wurde mit MilitÄrmotiven vorgestellt. Ich spielte einen Bomber, der auf Deutsche Bomben warf. Ich hatte HolzbauwÝrfeln auf den Boden geschmissen und unsere Musiklehrerin machte sehr laute Akkorde, die Explosionen darstellten.
Einmal hatte meine Mutter am Arbeitsplatz einen Besuch. An der PfÆrtnerloge stand ein Offizier mit einem riesigen Brot. Das war der Mann der Schwester von meiner Mutter Munja. Er hatte eine Dienstreise nach Krasnodar und fand unsere Adresse heraus. Er teilte uns mit, dass zwei Schwestern meiner Mutter Kuka und Honcja in Rostow von den Deutschen erschossen wurden.
Vater besuchte uns ein paar Male, als sein Zug im Krasnodar halt machte. Jedes Mal war es fÝr uns ein echtes Fest.
Im April 1944 bekam unsere Mutter eine Erlaubnis, nach Kiew zu fahren. Ihre Schuhfabrik, bei der sie vor dem Krieg angestellt war, arbeitete schon in Kiew und brauchte fachkundige Menschen.
Wir fuhren zu dritt nach Kiew. In Moskau mussten wir umsteigen. Das war die erste große Stadt, die wir nach Kriegsausbruch erleben konnten. Moskau machte auf uns einen großen Eindruck, trotz allen BeschrÄnkungen von den Kriegszeiten.
3.4. Wieder in Kiew.
Zu dritt kehrten wir im Mai 1944 nach Kiew zurÝck. Zuerst hatte unsere Familie keine Wohnung, deshalb lebten wir mit der Familie meiner Tante Etja ein paar Wochen in einem kleinen Zimmer (ca. 12 qm) 6 Personen zusammen. Mutter wurde in der Planungsabteilung der 4. Schuhfabrik als Vertreterin des Leiters angestellt. Sie bekam eine Erlaubnis, ein Zimmer in der 3-Zimmerwohnung unsres ehemaligen Hauses zu besetzen. Das ganze Haus war halb zerstÆrt. Es stand ohne Heizung, in vielen Fenstern fehlten die Glasscheiben. Von den frÝheren Bewohnern blieb kaum jemand Ýbrig. Alle Wohnungen waren wÄhrend der deutschen Okkupation total ausgeraubt. In unserer frÝheren Wohnung fanden wir nur einen Hasen aus Pappe fÝr den Weihnachtsbaum.
Sofort nach unserer Ankunft, versuchte meine Mutter etwas Ýber das Schicksal von Vaters Eltern herauszufinden. In ihrem Haus wohnten ganz fremde Leute. Sie wussten nichts Ýber meine Großeltern. In der Wohnung blieb keine Spur von ihren GegenstÄnden. Alles war vielleicht ausgeraubt. Die Nachbarn konnten nur behaupten, dass Großmutter und Großvater mit anderen jÝdischen Nachbarn von deutschen Soldaten und von den einheimischen Polizisten in eine Kolonne versammelt und weiter getrieben wurden. Offensichtlich, wurden sie ende September 1941 mit anderen Juden von Kiew erschossen.
Von September 1941 bis zur Befreiung Kiews wurden im Babij Jar ca. 100000 Menschen ermordet (außer Juden auch Kriegsgefangene, Kommunisten, Partisanen, Zigeuner und andere). Im Jahre 1944 fand ein Gerichtsprozess gegen die hÆchsten deutschen Kommandanten statt, die fÝr die GrÄueltat in Kiew verantwortlich waren. Alle Angeklagten wurden zur Hinrichtung durch das ErhÄngen verurteilt. Die Exekution wurde Æffentlich auf dem Bogdan Hmelnitskiy Platz durchgefÝhrt.
Ich persÆnlich sah diese Hinrichtung nicht. Die ErzÄhlungen von den Augenzeugen setzten mich aber in Schrecken. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass diese Leute schuldig waren und die hÄrteste Strafe verdienten. Ich konnte aber nicht glauben, dass unsere sowjetischen Soldaten diese Hinrichtung besonders grausam machten. Was fÝr Nazis aus meiner Sicht geeignet war, sollten unsere Leute nicht einsetzen. Ich war damals noch 8 Jahre alt und konnte meine GefÝhle nicht klar definieren.
In unserer Wohnung wohnten außer unserer Familie noch zwei Frauen mit Kindern, eine Kindergartenerzieherin Isa Nasarovna mit ihrer Tochter Sweta und eine WÄchterin vom Kindergarten Frau Rajgorodetskaja mit ihrer Tochter Lisa. Beide MÄdchen waren gleich alt wie wir. Alle waren 8 Jahre alt.
Es gab viel zu viel Arbeit, um unser Haus zu renovieren. Alle Bewohner machten ihren Beitrag. Dazu kamen auch Kriegsgefangene, meistens Deutsche und Ungarn. Nur nach zwei Jahren war unser Haus komplett. Deshalb mussten wir uns zum ersten Winter gut vorbereiten. Die Mutter schaffte in ihrem Betrieb einen Ofen, der aus Blech war. Der Ofen wurde gleich im Wohnzimmer festgesetzt. Der Abzug vom Rauch war durch gebeugte BlechrÆhren direkt ins Fenster geleitet. Wenn dieser Ofen geheizt wurde, glÝhte er sofort. Es war sehr gefÄhrlich sich dem Ofen zu nÄhern. Als Brennstoff benutzten wir Holz, Kohle und Gummiplattenresten, die unsere Mutter von der Fabrik brachte.
Der Winter war aber noch weit genug. Zuerst sollten wir uns zur Schule anmelden. Die einzige Jungenschule in unserer Umgebung war eine kleine Schule No 93 mit Unterricht in ukrainischer Sprache. Obwohl unsere Muttersprache Russisch war, wurden wir in diese Schule angemeldet.
Mutter hatte viele Sorgen, weil wir zur Schule unterwegs mehrmals Straßen mit Autoverkehr Ýberqueren mussten. Sie warnte uns stÄndig, sehr vorsichtig zu sein. Das half aber nichts.
Einmal gingen Fima und ich, einen unserer Freunde zur Straßenbahnhaltestelle zu begleiten. Wir warteten sehr lange auf den Wagen. Es gab viele Leute herum, die in die Ferne ungeduldig schauten. PlÆtzlich kam die Straßenbahn mit LÄrm und Klingeln. Alle stÝrmten zur TÝre. Ich war erschrocken und raste quer Ýber die Straße gerade gegen ein Auto, das vorbei fuhr. Nach dem Stoß verlor ich mein Bewusstsein. Nur im Krankenhaus kam ich zum Besinnung. Mein ganzer KÆrper war in VerbÄnden eingewickelt. Der Kopf, die Nase und die ganze Haut taten mir weh. Neben mir saß mein Bruder Fima und weinte. Meine ersten Gedanken waren, ob Mutter schon Bescheid wusste. Als sie kam, sagte ich zuerst, dass ich nie mehr so etwas tun wÝrde. Danach bat ich um einen Kringel mit Mohn. Mutter war sehr erleichtert, dass ich Appetit hatte. Eine Nacht verbrachte ich mit Mutter im Krankenhaus. Am nÄchsten Morgen fuhren wir ins OrthopÄdieinstitut zur Untersuchung, die zeigte, dass mein Nasenbein gebrochen war und der SchÄdel eine Beule bekam. Außerdem war meine ganze Haut an vielen Stellen beschÄdigt. Fast 3 Wochen war ich liegekrank. Die Beule am SchÄdel und der Nasenbeinbruch blieben fÝr immer.
Noch vor meiner Genesung geschah ein merkwÝrdiges Ereignis. Onkel Volodja kehrte wegen seinem Urlaub zu uns von der Front zurÝck. Er und Tante Etja besuchten uns. Das war eine sehr große Freude und Trost fÝr unsere Mutter und fÝr uns.
4. Die Schule
4.1. Die ersten Schuljahre.
Fima und ich kamen in die erste Klasse. Obwohl wir beide gut lesen, schreiben und rechnen konnten, war unser Schulanfang nicht leicht, weil wir vom Russisch zum Ukrainisch umschalten mussten. Das dauerte aber nicht lange. Schon nach 3 - 4 Wochen wurden wir zu den besten SchÝlern gezÄhlt.
Fima und ich waren 1 Jahr Älter, als die meisten unserer Kameraden. Wegen der Evakuierung konnten wir nicht rechtzeitig (7 Jahre alt) zur Schule gehen.
Jetzt machte uns das Lernen richtigen Spaß. Wir wurden in 5 FÄchern unterrichtet - Ukrainisch (ABC), Kaligraphy (SchÆnschreiben), Arithmetik, Turnen und Musik (Singen). Beim Musikunterricht sangen die SchÝler meistens die MilitÄrlieder, weil der Krieg noch nicht zu Ende war. Das schien manchmal ziemlich komisch. Wir sangen ein Lied, das "Machorochka" (eine Art von starkem Tabak) hieß.
Das war eine schwierige Zeit. Vieles war vom Krieg zerstÆrt. Es gab Mangel an allem, im Schulbedarf auch. Wir hatten keine Hefte und keine richtige Tinte. Jeder bemÝhte sich, um etwas zu finden. Unsere Mutter versorgte uns mit Papier von der Fabrik. Mutter liniierte die einzelnen BlÄtter und nÄhte sie in ein Heft zusammen. Die Tinte wurde aus roter Bete gemacht. Manche Kinder schrieben auf einem Zeitungsrand. Eins war aber unbedingt - alle mussten mit der Feder No 86 schreiben, um schÆne Buchstaben zu schaffen.
Unser Unterricht in der Schule No 93 war vorÝbergehend. Ihr GebÄude war aus Holz gebaut und war sehr veraltet. Wir sollten in eine andere Schule, die direkt vor dem Krieg gebaut wurde, ÝberfÝhrt werden. Ihr GebÄude wurde wÄhrend des Krieges stark beschÄdigt. 1944/1945 wurde diese Schule renoviert. Wir halfen bei der Renovierung mit allen KrÄften (sammelten Glasscheiben, Ziegel, trugen Baudreck weg und anderes). Die SchÝler trÄumten davon, so schnell wie mÆglich in neue Schule einzuziehen.
Das war eine hoffnungsvolle Zeit. Die Rote Armee war fast ununterbrochen am Vormarsch. Das ganze Territorium der Sowjetunion wurde von Deutschen befreit. Unsere Truppen marschierten in Europa ein. Damals kam oft die Post von unserem Vater. Seine Einheit wurde in RumÄnien stationiert. Einmal wurde Vater mit einem kurzfristigen Urlaub belohnt und kam zu uns.
Ich erinnere mich gerne an seine Geschenke, die er mitbrachte. Das war verschiedene Nahrung (Speck, Butter, Kondensmilch, Mehl), Feinseife in ungewÆhnlich schÆner Verpackung, Bonbons zum Lutschen in bunten Blechdosen. Besonders freuten wir uns Ýber die echten Hefte und ein PÄckchen von den Federn - damals unschÄtzbare Dinge.
Unsere erste Lehrerin war Vera Jeremejevna Jeserskaja. Sie war sehr alt und klein, barmherzig und lieb zu uns. Sie konnte einfach nicht streng sein. Sie lehrte uns aber ganz gut. Wir liebten sie sehr aber nicht ohne sie zu missbrauchen. Alle SchÝler waren Jungen und nicht sehr anstÄndig.
Im ersten Schuljahr lernten wir viele Schulkameraden kennen, die als beste Freunde fÝr das ganze Leben blieben. Besonders waren wir mit den MitschÝlern, die in unserem Haus wohnten, befreundet. Das waren Walik Silbermann, Os'ka Gerschunovitsch und Serezha Tomaschow. Jeden Tag gingen wir fÝnf zur Schule und nach Hause zusammen. Unterwegs machten wir kleine Schlachten, die ohne großen ärger endeten.
NatÝrlich hatte niemand von uns einen richtigen Schulranzen oder Schulmappe. Jeder benutzte das, was er hatte (SÄcke, Feldtaschen und so weiter). Fima und ich trugen unsere BÝcher und Hefte in einem grÝnen Seidenbeutel von Heiliger Schrift, der noch vom meinen Großvater benutzt wurde.
Manchmal trieben meine Kameraden sehr gefÄhrliche Spiele. Einmal trafen wir einen Traktor, der eine große Metallplatte schleppte. Sofort sprangen wir auf die Platte und fuhren mit großer Begeisterung mit. Alle hofften mit diesem schicken Transport direkt bis zur Schule geliefert zu werden. PlÆtzlich drehte der Traktor in eine andere Straße. Wir sprangen rasch von der Platte auf den Bahnsteig. Fima verspÄtete sich ein wenig und fiel direkt in eine PfÝtze mit Schlamm. Zum GlÝck verletzte er sich nicht, sein Mantel, war aber ganz verschmutzt. Zu Hause bekamen wir beide großen ärger von unserer Mutter, weil sie diesen Mantel aus gutem englischem Tuch nÄhen ließ und Fima zog ihn das erste Mal an.
Herbst und Winter waren vorbei. Der FrÝhling 1945 trat ein. Alle warteten auf das siegreiche Kriegsende. Am 9 Mai 1945 passierte es. Ich erinnere mich deutlich an den frÝhen Morgen dieses Tages. Es war Sonntag um 6 Uhr. Die meisten Menschen schliefen noch. PlÆtzlich hÆrten wir, als ein Lautsprecher auf der Straße, der von unserem Haus ca. 1 km entfernt war und den wir Ýblich nicht hÆren konnten, sehr laut etwas Feierliches zu behaupten begann. Nur einzelne WÆrter erreichten uns: "Deutschland... Kapitulation... Sieg... Rote Armee... Unsere VerbÝndete...". Alles war klar! Deutschland war besiegt!
Bald waren die Straßen voll. Die Leute begrÝßten sich zum Sieg, sie lÄchelten und weinten gleichzeitig. Trotz des Ruhetages versammelten sich fast alle Mitarbeiter mit ihren Familien in der Schuhfabrik. Dort fand eine feierliche Kundgebung statt, danach gab der Direktor der Fabrik ein Festessen fÝr alle Anwesenden. Das war ein herrlicher Tag!
Jetzt wÝnschten wir nur noch eines: unseren Vater so schnell wie mÆglich wieder zu sehen. Das war aber noch nicht so weit. Vater kehrte nur im April 1946 nach Kiew zurÝck.
4.2. Wir lesen.
Obwohl Fima und ich fließend lesen konnten, hatten wir fast keine MÆglichkeit etwas Interessantes zum Lesen zu finden. Außer den Zeitungen und den LernbÝcher hatten wir nichts. Nach dem Krieg begannen die BildungsbehÆrden sich mit den BÝchern fÝr Kinder und Jugendlichen zu beschÄftigen. In der NÄhe von unserer Schule wurde eine Bibliothek, Namens Gaidars genannt, geÆffnet. Das war ein sehr wichtiges Ereignis fÝr uns.
Alle unsere SchÝler meldeten sich bei der Bibliothek an. Die Leiterin war eine junge Frau, die sich sehr schÄmte, wenn wir sie mit dem Vornamen und dem Vatersnamen ansprachen. Darum nannten wir sie einfach Zhenja. In ihrer Arbeit war sie sehr engagiert. Zhenja leistete riesige Arbeit, um unseres Interesse zu den BÝchern zu wecken. Mit ihren BemÝhungen wurde eine phantastische Welt der BÝcher geÆffnet. Wir begannen, gierig zu lesen. Das war ein richtiger Durst, den man nicht stillen konnte. Nach einem durchgelesenen Buch kam sofort ein anderes. Noch jetzt kÆnnte ich viele BÝcher, die ich in meiner Kindheit las, nennen. Ein Buch, das auf mich besonderen Eindruck machte, war "Wanderung hinter drei Seen" von Afanasij Nikitin. Das war eine phantastische ýberlieferung Ýber die Reise eines Kaufmannes nach Indien. Er erreichte mit Schiffen, Pferden, Kamelen, zu Fuß sein Traumland Indien trotz unzÄhligen Hindernissen (StÝrme, Krankheiten, RÄuberÝberfÄlle und andere) und kehrte endlich nach Twer, seine Heimatstadt, zurÝck. Unvergesslich fÝr mich sind die bunten Bilder vom alten Indien, die A. Nikitin in seinem Buch darstellte.
Noch ein Buch mÆchte ich nennen. Das war die "Insel von Professor Adamson". Wer der Autor war, erinnere ich mich nicht. Auf einer Insel wohnte ein Wissenschaftler, der verschiedene Tierarten von ungewÆhnlicher GrÆße, z.B. ein EisbÄr, so groß wie eine Maus, oder eine Maus so groß wie ein Hund zÝchtete.
Diese Tiere sollten nach gerechten Gesetzen zusammen leben. Dort passierten verschiedene Kollisionen, die das Buch sehr spannend machten.
NatÝrlich lasen wir auch die BÝcher von sowjetischen Schriftstellern und Dichtern, wie Lev Kassil, Samuil Marschak, Arkadij Gajdar, Agnija Barto und anderen. ýber der Wirkung dieser BÝcher, besonders von den BÝchern von Gajdar und Kassil werde ich noch schreiben.
In der Bibliothek verbrachten wir fast ganze freie Zeit. Dort sollten wir nicht nur lesen, sondern tauschten mit einander unsere Meinungen Ýber durchgelesene BÝcher, trafen uns mit Schriftstellern, die fÝr Kinder schrieben und vieles mehr. Wir waren ganz fasziniert von der BÝcherwelt.