Mein Kleiner, im nÄchsten Monat wirst du 13 Jahre alt. Du hast dir viel MÝhe gemacht, um mir zu erklÄren, daß du nicht mehr ein Kind, sondern ein junger Mann bist. Du warst sogar nicht zu faul, in "Websters" nachzuschauen und mir zu zeigen, was eigentlich ein "Teenager" ist.
Dieser Geburtstag ist also sehr speziell und ist eines besonderen Geschenkes wÝrdig. Ich kann dir aber kein großes Haus, keine Weltreise, ja nicht einmal einen Hund schenken - ich habe kein Geld, keine regelmÄßige Arbeit, keine PlÄne fÝr die Zukunft, und fÝr unser tÄglich Brot mÝssen wir beide mit einem psychisch Kranken zusammenwohnen und uns an ihn anpassen. Wir haben keine Verwandten, die uns helfen kÆnnten, und alle meine Freunde und ehemalige Kollegen leben nun in anderen LÄndern. So viele "kein" und "keine" in allen wichtigen Bereichen des menschlichen Lebens habe ich frÝher niemals gehabt, und dabei kann man nicht sagen, daß mein Leben sehr leicht war.
Ich weiß nicht, warum das alles passiert ist. Ich bin 42 Jahre alt, ich lebte, ich sÝndigte wie alle anderen auch; ich bin meiner Pflicht nachgekommen und versuchte mehr SchÆnheit in die Welt zu bringen; ich half anderen Leuten, so gut ich konnte, und war sehr froh, imstande zu sein, diese Hilfe zu geben; ich war verliebt und wurde geliebt, ich habe viel getanzt und viele philosophische BÝcher gelesen, ich habe schÆne Kleider geschneidert und wissenschaftliche Theorien aufgestellt, ich liebte Mathematik und antiken Schmuck, ich sang. Manchmal ging es mir so schlecht, daß ich dachte, Gott hat mich verlassen, aber irgendwo habe ich die StÄrke gefunden, um weiter zu leben. Ich lÄchelte, weinte, Ärgerte mich und irrte, schÄmte mich, log und suchte nach der Wahrheit. Ich habe Gutes getan, ich habe Schlechtes getan. Ich war ein Mensch. Ich habe dich geboren.
Nun will ich dir ein spezielles Geschenk zu deinem 13. Geburtstag machen. Was fÝr ein Geschenk? Alle Kinder und Erwachsenen haben seit jeher gerne ein Spiel oder Spielzeug als Geschenk bekommen. Aber das beste Spielzeug - unsere Welt - hat jeder Mensch an seinem ersten Lebenstag bereits geschenkt bekommen. Dieses Spielzeug ist so interessant und so kompliziert, daß man das ganze Leben mit ihm spielt. Eine verzwickte Mischung aus einem Computerspiel und einem Abziehbild haben wir als Geschenk bekommen. Am Anfang funktioniert es genau so wie ein normales Strategiespiel. Eine stark vereinfachte Beschreibung kann, zum Beispiel, so aussehen: Level 1, einfach: Ein Mensch lernt die allgemeinen Spielregeln, nÄmlich: trinken, essen, sitzen, stehen, gehen, reden, schreiben ... Level 2, ein bißchen schwieriger: Der Mensch studiert Tips und Tricks, die andere Menschen vor ihm Ýber dieses Spiel ausgearbeitet haben: Wissenschaften, Kunst, Religionen, ... Level 3: Der Mensch spielt, das heißt, er lebt und stirbt einmal. Dann geht man zum nÄchsten Level, aber so weit bin ich noch nicht gegangen, und deshalb kann ich nicht beschreiben, was dort weiter passiert. Vielleicht war ich dort schon einmal, nur habe ich alles vergessen, wer weiß?
Es gibt aber einen sehr wesentlichen Unterschied zwischen unserem - nennen wir es - Weltspiel und einem normalen Spiel, einem am Computer.
Dieser Unterschied hat grundsÄtzlich mit dem Erfinder des Spiels selbst zu tun. Ein Computerspiel ist von Menschen gemacht, und deshalb funktionieren die Tips und Tricks, die von den Erfindern des Spiels kommen, immer. Außer bei Programmfehlern natÝrlich. Das Weltspiel Gottes hat aber kein Mensch gemacht. Einige von diesen Regeln, Tips und Tricks, die die Menschen wÄhrend vieler tausend Jahre des Spiels formuliert haben, konnten auf einmal falsch werden. Zum Beispiel war einmal die Behauptung, "die Erde ist flach", die absolute Wahrheit, heute ist sie das aber nicht mehr. Andere dieser Tips und Tricks kÆnnen ihre Allgemeinheit verlieren. Die Newtonsche Mechanik hat alles beschrieben, was immer da ist, bis zum Aufkommen der Einsteinschen Theorie, die uns etwas Neues gezeigt hat, das in unserer Welt auch existiert. Die Menschen waren frÝher niemals in diesen fernen Ecken der Welt gewesen, und deshalb war die Newtonsche Mechanik damals die einzige Wahrheit.
Und wie viele Tips und Tricks gibt es zur Natur des Weltspiels! Ein Erfinder, einige Erfinder, gar kein Erfinder; das allgemeine Ziel fÝr alle Menschen, das eigene Ziel eines jeden Menschen, gar kein Ziel; die Begriffe des Guten und Schlechten, der SchÆnheit und des ýbels sind absolut, sie sind relativ; das Ende existiert, das Ende existiert nicht; die Anzahl der Levels ist endlich, die Anzahl der Levels ist unendlich; man kann nur eine Rolle spielen, man kann viele Rollen spielen; man spielt nur einmal, man spielt vielmals ...
Du siehst selbst, mein Kind, daß das Weltspiel kompliziert ist und daß man sich genau wie in einem Computerspiel auf eine Aufgabe beschrÄnken muß - in deinen Spielen heißt sie "Mission". Zum Beispiel, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Oder als ein Naturforscher das Leben zu studieren. Oder Gott zu dienen. Meist haben die heutigen Missionen eine ziemlich verworrene Struktur. Ein Mensch muß viel Geld verdienen, und damit wird er automatisch ein guter Ehemann und Vater. Und ist auch seinen Pflichten Gott gegenÝber nachgekommen. Einige bestÄtigen aber, daß der Mensch, um Gott zu dienen, Geld und VermÆgen weggeben muß. Da soll sich einer auskennen.
Es gibt noch kompliziertere Missionen: Der Mensch denkt, daß er Ýberhaupt keine Mission hat. Er spaziert frei durch seine Welt, sieht sich nach allen Seiten um, versucht, die gefÄhrlichen Stellen zu umgehen, und im großen und ganzen genießt er sein Leben. AllmÄhlich - manchmal aber auch auf einmal - wird diese Welt, die ihm so bekannt und vertraut ist, zerstÆrt. Es gibt zwar keinen Krieg, kein Erdbeben, keine Invasion der Außerirdischen. Die anderen Leute leben wie immer und merken nichts, aber dieser Mensch sieht es: WÄnde stÝrzen ein, Steine fliegen, Ýberall ist Feuer, riesige Teile seiner Welt sind irgendwohin spurlos verschwunden ...
Genau in diesem Augenblick, der einige Jahre des menschlichen Lebens dauern kann, sieht der Mensch - falls er Ýberlebt hat - das, was ich oben schon ein Abziehbild genannt habe. Die vormaligen Ideen, Vorstellungen, Ziele sind jetzt nur eine dicke trÝbe Schicht, die verschwindet und ein neues Bild enthÝllt. Ein Bild einer neuen wunderbaren Welt, die in Tausenden Farben glÄnzt und funkelt, mit zauberhaftem Aroma gefÝllt und so ungewÆhnlich vollkommen und perfekt, daß man Angst bekommen kÆnnte. Vielleicht ist es nicht mehr die Welt fÝr das Leben, vielleicht ist es das Ende des Spiels?
Auf jeden Fall ist es einstweilen nur ein Bild. Die alte Welt hat sich auch in ein sehr interessantes Bild verwandelt. Vor allem haben sich alle MaßstÄbe geÄndert. Das Bild der alten Welt ist klein, genau gezeichnet und erinnert mich meistens an den Plan eines Hauses, in dem alle meine Pfade und Wege verlaufen. Dieses Haus ist riesig, mit vielen Etagen und mit komplizierten Strukturen der RÄume, Korridore und Treppen. Und natÝrlich mit vielen TÝren. Menschen sind auch dargestellt, auf zwei verschiedene Arten. Einige sind da, um es mir zu ermÆglichen, einen Teil des Weges zurÝckzulegen. Andere beleuchten wie riesige Fackeln meinen ganzen Weg oder einen Großteil davon. Einige Ereignisse meines Lebens zeichnen sich wie leuchtende Flecken vor dem allgemeinen neutralen Hintergrund ab. Ich sehe das Bild wie durch ein umgedrehtes Fernrohr.
Das Bild ist mit Sinn und innerer Logik gefÝllt. Was ich frÝher als sinnloses und leicht langweiliges Herumirren eingeschÄtzt habe, sieht jetzt wie ein zielstrebiger Vormarsch aus. Brauchst du ein Beispiel? Gerne. Es geschah, glaube ich, 1985. Woher mein Arbeitgeber seine Ideen nahm, wußte ich nie. Dieses Mal wollte er, daß unsere Mathematikergruppe auf der Stelle eine Theorie Ýber Datenbanken untersuchen und dann den Programmierern erklÄren sollte, wie man diese Datenbanken programmieren kÆnnte. Relationen und hierarchische Datenbanken, einfache und primÄre SchlÝssel, Tabellen und Abfragen - das war nicht schwer zu verstehen und in einfachen Worten zu erklÄren, aber fÝr mich persÆnlich war es langweilig und im damaligen russischen, fast computerlosen Leben sinnlos.
Die Mathematiker hatten an der Datenbanktheorie einige Monate lang gearbeitet und sie ein paar Wochen lang den Programmierern erklÄrt. Nach einigen Monaten war die erste Datenbank fertig, und die Mathematiker beschÄftigten sich nicht mehr mit Datenbanken, sondern mit LISP, PROLOG und der Lambda-Berechnung. Das Ende der Datenbanken in meinem Leben, dachte ich. Das war das Ende, aber nur bis zum Sommer 1995, als ich von Amerika nach æsterreich kam und entdeckte, daß dein Vater circa 1.700 Dollar netto pro Monat verdient, 1.000 Dollar fÝr die Wohnung zahlt und 20.000 Dollar Schulden hatte. Die einzige MÆglichkeit, die ich an der Hand hatte, um diese Situation zu verÄndern, war folgende: Datenbanken programmieren. Das haben wir geschafft. Nun kÆnnte ich vielleicht sagen, daß es einmal langweilig war, zehn Jahre davor Datenbanktheorien zu studieren, aber sinnlos war es sicher nicht.
Kehren wir zurÝck zu unserem neuen Bild der alten Welt. Alle Dinge haben ihre Werte geÄndert. Was einmal sehr wichtig war, ist nicht mehr von Bedeutung. Ich kann mich nur mit MÝhe an den Familiennamen meines ersten Ehemannes erinnern (es dauerte gestern fast acht Minuten), aber Mark, den ich nur einmal gesehen habe, ist ein nicht wegzudenkender Teil dieses Bildes. Irgendwelche Kleinigkeiten, an die ich mich Ýber dreißig Jahre nicht erinnert habe, erscheinen wichtiger als die Siege, die mit meinem Schweiß und Blut bezahlt wurden. Die Tatsache, daß in einem kleinen russischen Ort in einem LebensmittelgeschÄft einmal Kefir ausgegangen war, ist wichtiger als alle Dissertationen, Promotionen und erhaltenen Titel zusammen. Ein schÆnes Kleid, eine wissenschaftliche Theorie und ein gutgesungenes Lied sind gleichwertig. Worte und Gedanken sind von gleichem Wert wie Taten.
Viele Menschen, die einmal eine riesige Rolle fÝr mich spielten, sind nicht mehr im Bild sichtbar. Andere sind fest da, wie Mani, obwohl ich mit ihm nur einmal persÆnlich gesprochen habe. Seine JÝnger waren aber immer in der NÄhe.
Erinnerst du dich, was passiert, wenn du in einem Spiel einen Level beendet hast und eine Pause vor dem nÄchsten Level kriegst? Du hÆrst gute Musik oder siehst eine Demo oder ein schÆnes Bild und bereitest dich auf den nÄchsten Level vor. Genau an dieser Stelle befinde ich mich jetzt. Ich sitze vor einem Bildschirm und schaue diese beiden Bilder an. Meine alte Welt existiert nicht mehr, sie ist bereits nur mehr ein Bild. Die neue Welt ist momentan auch nur ein Bild, wobei ich keine TÝr sehe, um dort einzutreten.
Es ist mir Zeit gegeben, Ýber mein altes Leben nachzudenken.
Es ist mir Zeit gegeben, dir ein Geschenk zu machen.
Dieses Buch ist mein Geschenk. Mein Spiel - meine Wege, meine Strategien und Fehler, meine Gedanken und BeschÄftigungen, all diese Korridore und TÝren, durch die ich gegangen bin - ist hier beschrieben. Einige Tips und Tricks wirst du hier auch finden, obwohl sie manchmal nicht leicht verstÄndlich sind. Aber ein leichtes Spiel ist zu langweilig, um es zu spielen, nicht wahr? Einige Geschichten sind nicht da, und eine einzige Geschichte bekam ein neues, fÝr Kinder eher passendes Ende.
Das Leben, das ich durchlebt habe, ist nicht dein Leben. Du wirst durch andere Korridore laufen und andere TÝren Æffnen. Aber was dahinter steht, ist immer dasselbe. Was fÝr einen Beweis ich dafÝr habe? Wie einst ein Bekannter namens Izka gesagt hat:
Der Beweis ist der Prozeß der Vermittlung von Gewißheit von einem Menschen, der diese Gewißheit besitzt, an einen anderen Menschen, der diese Gewißheit zu Ýbernehmen bereit ist.
Ich glaube, daß du dazu bereit bist.
Der Prozeß beginnt.
TÝr
...................................
Und ich schrieb, schrieb, schrieb ...
PlÆtzlich blieb mein Buch - mein Rennpferd - wie angewurzelt stehen, Gott weiß warum. Meine Empfindung meiner selbst hatte sich auch geÄndert - ich war nun einfach ein Teil eines schimmernden Lichts, das Ýberall ist. Sehr angenehm, aber ein wenig langweilig. Ist das alles? Soll ich mein Buch nie fertig machen? Und was weiter?
Ich sprach mit Tor und Eva, mit Ben, mit Ham - alle sagten, daß ich vielleicht eine Pause brauchte, eine kleine Reise. Tor und Eva wollten schon seit langem einen Teil meines Textes lesen - ich schickte ihnen die ersten zwÆlf Kapitel, die im Grunde genommen fertig waren. Ben sagte, daß man sich vor Rosch ha-Schana (dem hebrÄischen Neujahrsfest) selbst in Ordnung bringen, seine Taten und Gedanken von neuem bewerten, mit sich ins reine kommen muß. Und die Antworten bekÄme ich wahrscheinlich nicht spÄter als an Jom Kippur (dem hebrÄischen VersÆhnungstag), der eine Woche nach Rosch ha-Schana stattfinden wird. Ich antwortete nur, daß ich mit diesem Licht anstelle meiner Eingeweide Ýberhaupt nicht begriff, was ich da noch ins reine bringen sollte.
Als ich diese Worte ausgesprochen hatte, erschien vor meinem inneren Auge ein 2D-Bild von mir selbst: Meine HÄnde, meine FÝße und mein Kopf waren da, aber statt meines KÆrpers sah ich nur formlose Konturen, die ein inneres Licht umrahmten. Dasselbe Licht war auch Ýberall außerhalb von mir, und deshalb erinnerte mich dieses Bild einfach an eine aus Papier geschnittene Figur mit einem Loch in der Mitte.
Als ich Studentin des ersten Jahres an der Uni war, begann Prof. Kamynin, der uns Calculus beibrachte, mir plÆtzlich in der zweiten Stunde seiner Vorlesung irgendwelche Fragen zu stellen. Er wollte, daß ich ihm eine Formel sage. Das war sehr ungewÆhnlich - normalerweise bekam ein Student in den Vorlesungen keine Fragen, sondern eher in den Seminaren. Den Grund kannte ich natÝrlich.
In den Pausen zwischen erster und zweiter Stunde ging er gerne durch die Reihen und sah sich die Notizen an, die die Studenten in seiner Vorlesung gemacht hatten. Niemand mochte diese Vorlesung - eine riesige Menge Material fÝr jede Vorlesung war immer nachlÄssig organisiert und mit sinnlosen, komplizierten Bezeichnungen Ýberlastet. Und das war mathematische Analyse - die Grundlage der ganzen stetigen Mathematik! Aber was fÝr eine Grundlage! Deshalb stand auf meinem Notizbuch nicht "Vorlesung in mathematischer Analyse", sondern "Vorlesung in Kamynismus". Es klang so Ähnlich wie "Vorlesung in Kommunismus" und war sehr lustig. Das heißt, es war lustig fÝr alle außer Kamynin. Er beschloß wahrscheinlich, allen zu zeigen, daß ich keinen Calculus konnte. Ich nannte die Formel. FÝr den 2D-Fall. Er verlangte sie nun fÝr den 3D-Fall. Ich kannte sie nicht. Da war er sehr zufrieden und vermeldete lautstark: "Rebe - Sie sind ein 2D-Wesen!" Das GelÄchter der ungefÄhr hundert anwesenden Studenten hat meine Entscheidung, nicht mehr zu dieser Vorlesung zu gehen, verstÄrkt.
Nun erschien mir mein 2D-Bild nicht mehr unrealistisch oder unangenehm - es waren auch keine hundert lachenden Menschen dabei. Ich habe auch Ben nichts davon gesagt, sondern bat ihn statt dessen plÆtzlich um einen Gefallen - mir das Buch "The Thirteen Petalled Rose" von Adin Steinsaltz zu schicken. Es ist interessant, wie ich Ýberhaupt von diesem Buch wissen konnte - unter den zahlreichen religiÆsen BÝchern, auf die ich auf meinen Lebenswegen gestoßen bin, war dieses das einzige Ýber Judaismus.
Es geschah in jenem Herbst 1992, der so ereignisreich war. Ich saß in unserem Labor im Institut und wartete auf irgendwelche offiziellen Papiere. Adler flog im wahrsten Sinne des Wortes ins Zimmer, schaute alle Anwesenden an und sagte mir: "Gut, daß du hier bist. Ben hat mir ein Buch gegeben, aber ich habe keine Zeit, es zu lesen - ich muß zur Datscha. Es ist genau richtig fÝr dich." Aus seinem riesigen schmutzigen Rucksack, der unter anderem einen Eimer und irgendwelches GartengerÄt enthielt, angelte er das Buch heraus. Ich hatte gerade noch Zeit, danke zu sagen, da war er schon weg. Einer der Anwesenden sagte, daß Adler zwar ein guter Mensch, aber nicht ganz richtig im Kopf sei.
Das war sicher ein ungewÆhnlicher Weg, an ein Buch zu kommen, und ich begann sofort zu lesen. Nach 30 oder 40 Minuten war mir plÆtzlich klar, daß ich kein Wort mehr verstehe. Ich war Ýberrascht - der Anfang des Buches war transparent, und der Standpunkt des Autors deckte sich mit dem meinen. Aber irgendwie hatte ich den Faden verloren. Ich habe es auf den LÄrm und die grundsÄtzlich unpassende Situation zurÝckgefÝhrt. Die SekretÄrin brachte mir gerade die erwarteten offizielle Papiere, und ich mußte schon dringend weg ... Als ich am Abend zu Hause noch einmal von Anfang an zu lesen begann, passierte mir dasselbe - bei irgendeiner Stelle angefangen, konnte ich nichts mehr verstehen. Ich blÄtterte das Buch bis zum Ende durch - vielleicht war es ja einfach eine schwierige Stelle, und es wÝrde leichter weitergehen.
Es war nicht mÆglich, das Ergebnis meines DurchblÄtterns mit den Begriffen "leichter" oder "schwieriger" zu beschreiben. In dieser Hinsicht unterschied sich dieses Buch von allen anderen, die ich je gelesen hatte - es gab keinen fließenden ýbergang vom Leichteren zum Schwierigen. Vergleiche konnte man prinzipiell nicht anstellen, weil der Sinn des Vergleichs darin besteht, daß ein neues Faktum etwas mit bekannten Dingen gemein hat. Und ich sah nichts Gemeinsames in den verschiedenen Kapiteln dieses Buches - sie wirkten wie Teile eines Puzzles, ausgestreut auf einem weißen Blatt. Und die Vorlage war nicht dabei. Oder ich war nicht bereit ...
Vor meiner Abreise aus Rußland habe ich das Buch zurÝckgegeben und das erste Mal, daß ich mich wieder daran erinnerte, war nun, sieben Jahre spÄter. Ich wußte weder Titel noch Autor und auch die Tatsache, daß es um ein religiÆses Buch geht, war irgendwie aus meinem GedÄchtnis verschwunden. Ich dachte, daß es das persÆnliche Weltbild des Autors enthielte und daß an ihm etwas dran sei.
Adler war irgendwo in Kanada oder in Japan (vielleicht wieder auf der Datscha), und man konnte seiner einfach nicht habhaft werden. WÄhrend unseres TelefongesprÄchs konnte Ben lange nicht begreifen, um welches Buch es ging. Meine zusammenhanglosen Beschreibungen Þ la "dieses gute Buch, etwas Ýber eine Rose steht im Titel, du hast es vor sieben Jahren Adler zu lesen gegeben usw." erinnerten mich an ein flÝchtiges Hobby aus meinen UniversitÄtsjahren - KreuzwortrÄtsel konstruieren. Als Fischliebhaber hatte ich einmal ein spezielles Fische-KreuzwortrÄtsel mit 30 oder 40 WÆrtern erstellt, in dem die Beschreibungen so aussahen: ein kleiner leckerer Fisch; ein schÆner, aber nicht eßbarer Fisch; ein sehr großer und GerÝchten zufolge sehr schmackhafter Fisch etc. Ob jemand mein damaliges RÄtsel je gelÆst hat, weiß ich nicht mehr, aber Ben meisterte seine Aufgabe.
Als er den Titel des Buches sagte und ich ihn erkannte, war er sehr Ýberrascht und sagte, daß es ihm nicht in den Sinn gekommen wÄre, daß ich von einem religiÆsen Buch rede und daß gerade in diesem Moment eine neue Ausgabe vor ihm auf dem Tisch liege. Das alte Buch war irgendwie verlorengegangen, und er hatte ein neues gekauft.
Ende August habe ich das Buch bekommen.
Ich kann dir nicht sagen, was grÆßer war - meine ýberraschung oder meine EnttÄuschung. Ich habe das Buch sofort gelesen. Das heißt, die ersten zehn Kapitel. Das letzte, elfte Kapitel, habe ich nur durchgeblÄttert, weil die Details, wie der Schabbat gefeiert wird, sicher nur fÝr religiÆse Juden wichtig sind. Der Text des Buches war deutlich und verstÄndlich und befand sich im Einklang mit meiner Weltvorstellung, obwohl ich alle hebrÄischen Bezeichnungen und die BegrÝndung der Verbote der Tora ausgelassen habe - wofÝr brauchte ich das alles? Jedenfalls gab es kein Puzzle mehr, sondern eine wunderschÆne Rose. Na und? Wie dein Vater gerne sagt, "es ist angenehm, einen klugen Menschen zu treffen, der mit dir einer Meinung ist". Aber die Antwort auf meine Frage - was ist dort weiter? - habe ich nicht bekommen.
Die Rose schien unecht.
Was fehlte ihr - Duft, Bewegung? ... -, ich wußte es nicht, schreiben konnte ich auch nicht, und nach einigen Tagen peinigender UntÄtigkeit entschied ich, daß alles vorbei sei. Ich mußte den Text auf Diskette und auf Papier festhalten, die Arbeit am Text selbst beiseite legen und zu meinem normalen, schrecklichen bisherigen was-weiß-ich-noch-Leben zurÝckkehren. Wir haben uns amÝsiert, und das war`s. Zum ersten Mal in den letzten zehn Tagen habe ich nun den Computer eingeschaltet, und ich habe sogar die HÄnde auf die Tastatur gelegt, aber nicht mehr. Weil mein Telefon klingelte.
Es war Tor. Er sagte nur, daß mein Buch "Kaddisch" heißen solle und daß er leider keine Zeit habe, das alles zu besprechen. Dann legte er wieder auf.
Von Anfang an fiel es mir schwer, dem Buch einen Namen zu geben. Ein paar Monate lang hatte es Ýberhaupt keinen Namen. SpÄter dachte ich, daß "die Arbeit" ein passender Name sein kÆnnte, aber das wÝrde zu viele ErklÄrungen verlangen, deshalb existierte dieser Name nur in meinem Kopf und wurde niemals geschrieben. Irgendwann im Mai ist mir plÆtzlich das Wort "Gebet" zugeflogen, wurde niedergeschrieben und sah mehr oder weniger passend aus, obwohl ich keine Ahnung hatte, warum. Was fÝr ein Name fÝr ein Buch, das mit Religion nichts zu tun hatte! Was fÝr ein Name fÝr ein Buch, dessen Autor kein einziges Gebet auswendig kennt! Was fÝr ein Name ...
Der Name paßte und Punkt. Mehr oder weniger.
Und nun - noch ein neuer Name. Warum? Und welcher eigentlich? Ich war nicht sicher, ob ich richtig gehÆrt hatte - alles ist so schnell passiert. Kaddisch? Oder Kiddusch? Und noch ein halbbekanntes Wort tauchte aus meinem GedÄchtnis auf: Kodesch. Ich wußte nicht, was diese WÆrter alle genau bedeuteten, und hatte nur vage Vorstellungen: Kaddisch und Kiddusch sind irgendwelche Gebete, und Kodesch ist auch etwas Gutes. Dein Vater sagte sofort, daß es keinen Unterschied zwischen diesen WÆrtern gibt, weil man die Vokale im HebrÄischen nicht schreibt und diese drei WÆrter ohne Vokale gleich sind. Ich rief Ada an und lernte, daß Kodesch "heiliger Mensch" bedeutet, daß es im HebrÄischen doch einige Zeichen fÝr Vokale gibt und daß HebrÄisch in Wirklichkeit nicht so schwer ist, wie immer gesagt wird. Man muß einfach einmal begreifen, wie die Sprache aufgebaut ist, und dann geht es leicht mit dem Reden und Lesen. Das Schreiben ist natÝrlich komplizierter. Und damit endete unser GesprÄch.
Mein wandelndes Lexikon sagte sofort, daß die Frauen nie wissen, wovon sie Ýberhaupt sprechen, daß diese Zeichen fÝr Vokale im HebrÄischen erst im 13. Jahrhundert das Licht der Welt erblickten und es frÝher keine gegeben hatte, daß ... Ich hÆrte ihm nicht mehr zu - wofÝr? Vielleicht waren ja im 13. Jahrhundert alle Rosen weiß und ihre BlÝtenblÄtter nicht lÄnger als eineinhalb Zentimeter. Soll ich mich deshalb auch heute vielleicht nur mit solchen Rosen begnÝgen?
Ich versuchte zu lernen, was Kaddisch und Kiddusch ist. Kiddusch ist ein Lobgebet. Kaddisch ist ein Gebet, auch eine Segnung. Na klasse! Dann die Beispiele. Ein Kiddusch soll man abends am Schabbat sprechen. Auch an Festtagen wÄhrend des Morgenessens. Das Kaddisch ist eines der hÄufigsten jÝdischen Gebete. Es wird auch bei BegrÄbnissen gesprochen. Und das sogenannte Achtzehnbittengebet - das logischerweise neunzehn Bitten beinhaltet - nennt man auch Kaddisch. Oder nicht?
Mir wurde schwindlig.
Ich hatte aber schon meine Methode, unbekannte Worte zu erkennen. Diese Methode entwickelte sich wÄhrend meiner Unterhaltungen mit Alm und funktionierte tadellos. Wenn ich irgendein Wort nicht wußte oder mir nicht sicher war, dann beschrieb ich Alm, was ich brauchte. Es konnten GefÝhle sein, die dieses Wort hervorrufen sollten, oder eine Situation, in der man so ein Wort benutzen kann, oder einfach viel Gestikulieren und Grimassenschneiden. Wie in Odessa auf dem Basar. Was sich eigentlich im Kopf dieses jungen Rockmusikfans abspielte, werde ich wahrscheinlich nie erfahren. Aber es war sicher etwas Richtiges, und er sprach einige Worte aus, die ich frÝher nie gehÆrt oder gelesen hatte, und ich - ich erkannte einfach mein Wort. Oder sagte, daß alle falsch sind. Nach dem GehÆr. Fast immer ohne WÆrterbuch.
"Was ist das fÝr eine Methode? Wo ist deine wissenschaftliche Schulung? Marsch zu den WÆrterbÝchern!" schrie Ärgerlich meine innere Stimme, seltsamerweiser mit der Intonation deines Vaters. Und ich marschierte. Die gelehrten BÝcher bestÄtigten nur, daß alles richtig ist. Ich entschied aber - immerhin, wissenschaftliche Schulung ... -, ein paar Experimente zu machen. Nach zwei Monaten dieses nicht Deutsch-Lernens, sondern Deutsch-Erkennens kannte ich schon genug Worte, um ein zwar nicht ganz genaues, aber fast richtiges Wort hier und dort einzusetzen. Alm bemerkte diese Worte immer und besserte sie durch die richtigen aus - die ich im voraus wußte.
Einmal bekam er zufÄlligerweise einen Text mit einem Fehler, den ich selbst schon korrigiert hatte, aber irgendwie war diese änderung nicht gespeichert. Ich will Gat nicht fÝr die Unvollkommenheit der Computerprogramme tadeln, die sein Lebenswerk "Daat" produziert. Eher loben. Was die Vollkommenheit betrifft, so verhÄlt es sich so, wie Salvator Dali einst seinen SchÝlern gesagt hatte: "Haben Sie keine Angst vor der Vollkommenheit, Sie werden sie nie erreichen." Was diesen Fehler betrifft, so hat er mir geholfen, etwas sehr Wichtiges zu verstehen.
Alm bekam also den Text, in dem ein Hauptwort fett hervorgehoben war, wÄhrend eigentlich der vorangehende Artikel hÄtte betont werden mÝssen. Als er zu dieser Stelle im Text gekommen war, sagte er, daß er lieber den Artikel des Wortes hervorheben wÝrde. In diesem Moment habe ich endlich verstanden, daß Alm kein Kind ist, das mir einfach mit deutscher Grammatik hilft; daß Gott ihn mir gesandt hat, um meine Aufgabe rechtzeitig zu erledigen; daß seine Rolle eine der Hauptrollen in diesem Buch ist; daß sich vor meinen Augen die ganze Zeit ein wirkliches Wunder abspielte und ich es einfach nicht sah. Na ja, normalerweise erwartet man auch kein Gotteswunder zwischen all diesen Ringen, Ohrringen und gefÄrbten Haaren. ýbrigens war das alles zu diesem Zeitpunkt irgendwie unmerklich verschwunden.
Eines der besten Dinge, die er gemacht hat, war folgendes: wenn er mit einem korrigierten Text zu mir kam, las er mir immer den Text laut vor. Zuerst war ich sehr Ýberrascht - warum macht er sich soviel zusÄtzliche Arbeit? Und wie ist ihm diese Idee in den Sinn gekommen? Wie sie ihm kam, weiß ich nicht, aber wozu - ist nun sehr begreiflich. Ich schrieb in Deutsch, aber sprach es nicht. Die meisten von mir geschriebenen WÆrter hatte ich niemals in meinem Leben gehÆrt - wie ein Komponist, der eine Musik schreibt, die auf keinem Instrument gespielt wird. Ich bestimmte nach dem GehÆr falsche Noten bzw. WÆrter genauso, wie man im Mittelalter eine MÝnze mit den ZÄhne prÝfte. Alm hat den ganzen Text laut gelesen! Na ja, nicht ganz - manchmal ließ er einige WÆrter aus, und einmal wollte ich ein TextstÝck nicht hÆren. Aber auch in der Musik haben die Menschen verschiedene Neigungen, und es Ýberrascht niemanden, wenn man Bach und Beatles gerne mag, aber von Strawinski oder Bruckner nichts hÆren mÆchte.
Bald hatte ich schon meine eigene Methode, unbekannte WÆrter dem GehÆr nach einzuschÄtzen. Deshalb habe ich folgendes gemacht: Ich habe drei Seiten gedruckt, jede mit einem mÆglichen Namen. Dann schaute ich die erste Seite aufmerksam an und las laut den dort geschriebenen Namen. Dann nahm ich die zweite Seite und machte dasselbe. Dann - die dritte. Das muß lÄcherlich anzusehen gewesen sein, aber niemand war da, um zu lachen. Der Name Kodesch war praktisch sofort hinfÄllig. Mit Kaddisch und Kiddusch hatte ich mehr Probleme. Ehrlich gesagt, Kaddisch gefiel mir weitaus besser - ich konnte es mit voller Stimme singen: Kaaaaaaaaaa-diiiiiiiiiiiiisch! Und genauso fÝhlte ich mich - als ob ich mein Lied laut vortrage. Kiddusch klang ruhiger, weicher, aber ich konnte es auch nicht beiseite lassen. Wie eine dumme SchÝlerin, die nicht alles auf einmal lernen kann, fing ich wieder an, das Buch von Steinsaltz zu lesen. Zuerst das Kapitel Ýber Schabbat und dann alles von neuem, von Anfang an.
All diese stÝrmischen AktivitÄten - das Hinausschreien der unbekannten WÆrter, das genaue Betrachten der Seiten, von denen jede nur ein Wort enthielt, das neuerliche Lesen des Buches, das ich schon einige Male gelesen hatte - dauerten einen Tag und fÝhrten zu einem erstaunlichen Ergebnis. Ich war gezwungen, meinem Buch den Namen "Kiddusch" zu geben. Ich mochte ihn nicht, aber ich wurde nicht gefragt. Als ich diesen Namen auf die erste Seite des Buchs geschrieben hatte, war die Welt um mich herum eine andere. Oder war ich eine andere? Oder hat der Herr ihr die Augen geÆffnet, und sie hat den Brunnen erkannt?
Ich erkannte keinen Brunnen, sondern ein GefÄhrt.
Ein GefÄhrt, das auch DAS BUCH war.
Und auch die Zeit.
Und das Leben.
Du darfst dich nicht zu sehr wundern, wie so viele verschiedene Dinge es verstehen, sich zu einem großen Ganzen zu vereinen. Nehmen wir zum Beispiel eine Wassermelone: die ist grÝn und fest, aber auch rot und weich, und obwohl sie eßbar ist, ist sie ein direkter Verwandter des zarten Veilchens. Die Familie nennt sich Violaceae und hat viele andere Verwandte: BÄume, GebÝsche und KrÄuter; circa 900 Arten, die Ýberall vom arktischen Pol bis in die Subtropen gedeihen; KÝrbis, Maracuja (Passiflora), Papaya (Carica papaya) etc. Nicht jeder kann zumindestirgend etwasÄhnliches unter allen diesen Verwandten sehen, wir interessieren uns aber auch nicht fÝr all diese Verwandten der Wassermelone, wenn wir sie essen, richtig? Wir essen sie einfach. Und die Details Ýberlassen wir den Fachleuten.
Versuchen wir jetzt einmal, dieses GefÄhrt genauso einfach zu betrachten. Und weil wir keine Fachleute sind, versuchen wir besser nicht, die ganze Familie auf einmal zu beschreiben, sondern nur die eine Wassermelone. Dieses Buch.
Zuerst schreiben wir die Zahlen 1 bis 14 der Reihe nach auf und fangen an, eine Spirale wie folgt zu zeichnen: von der Zahl 6 nach unten und nach links bis zur 5, dann nach oben und rechts bis zur 7, dann noch einmal nach unten und links bis zur 4. Sobald du auf diese Weise 1 erreichst, gab es nur einen Weg weiter - nach rechts. Genau in dieser Reihenfolge wurden die Kapitel dieses Buches geschrieben, und ich konnte auf diesen Verlauf nicht einwirken. Es schien einfacher zu sein, alles nacheinander zu schreiben, aber da kam einfach nichts dabei heraus. Und dann erwies sich plÆtzlich, daß in diesen nicht der Reihe nach geschriebenen Kapiteln in gewissem Sinn dieselben Dinge beschrieben waren. Obwohl die Ereignisse in verschiedenen Jahren, in verschiedenen LÄndern und mit verschiedenen Menschen stattfanden - also lief das Leben trotzdem nicht im Kreis, sondern folgte der Spirale.
Somit die Spirale. Damit auch die Zeit. Ein Ende dieser Spirale ist aber unerwartet aufgegangen und vorangeflogen wie ein reinrassiger Traber mit wehender MÄhne - laß uns doch ein kleines Spielzeugpferd an dieses Ende setzen. Laß es rennen. Und das Pferd rennt los, so fein, so raumgreifend, und ein Rad rollt hinter ihm und hÝpft Ýber die SchlaglÆcher. Aber wo kommt eigentlich das Rad her? Nach aufmerksamem Betrachten sehen wir, daß sich unsere ehemalige Spirale in eine Art Rad verwandelt hat, wobei Stege sichtbar werden, die wie Radspeichen verschiedene Stellen auf dem Rad verbinden. Es gibt nicht viele Speichen und sie verbinden Punkte, die sieben, zehn und 21 oder 22 Jahre voneinander entfernt sind ... Mit drei Speichen kÆnnte nicht einmal ein normales Fahrrad weit fahren, und hier ist die Sache noch ein wenig ernster. Warum rollt dieses Rad so gut?
Das ist es! Die StabilitÄt verleiht ihm eine Vielzahl von kleinen Speichen, die man bei diesem Tempo zuerst nicht sehen konnte - sie verschmelzen in einer netten Wolke. Wenn man aber deutlicher hinsieht, erkennt man Details und versteht plÆtzlich etwas Offensichtliches: Jede kleine Speiche ist einfach ein Schabbat!
Ich sah, wie mein eigenes Rad an den Unebenheiten des Weges hochsprang und was ihm fÝr die wirkliche StabilitÄt fehlte.
Ich sah die mit den Stegen verbundenen Paare der Spiralen, die jene Hauptelemente waren, aus denen wie aus Lego-StÝckchen das GefÄhrt zusammengebaut war.
Ich sah, was dort weiter ist, und zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur habe ich das Buch fertig geschrieben.
Ich sah, wie die Rose vor meinen Augen plÆtzlich zum Leben erwachte: Ihre KelchblÄtter zitterten leise, und sie fing an, rhythmisch zu atmen. Ka - einatmen, Disch - ausatmen, Kaa - einatmen, Diiisch - ausatmen, Kaaaaa - diiiiiisch, Kaaaaaaaaaa - diiiiiiiiiiiisch, sang meine Rose aus voller Brust, und ich verstand endlich das letzte, was ich heute noch verstehen mußte: Das Buch hatte sich nur als "Kiddusch" verstellt, um mir zu helfen, den Sinn des Schabbat zu begreifen.
Ich sah, wie unrecht Shakespeare hatte, als er schrieb:
What's in a name?
That which we call a Rose
By any other name
Would smell as sweat.
Ich sah ...
Ich sah noch viel mehr, aber besprechen wir das besser ein anderes Mal. Jetzt bin ich ein bißchen mÝde. Der Tag war lang und mÝhsam, es gab viel zu tun, es wurde viel erledigt, und die Pause habe ich mir redlich verdient.
Die Tische sind schon gedeckt.
Es ist Zeit, die Kerzen anzuzÝnden.
Personen der Handlung
Ich sehe schon deine Ärgerliche Physiognomie und deine Augen voller TrÄnen, wenn du nach schneller Durchsicht der handelnden Personen deinen Namen nicht gefunden hast. "Ich bin ja hier die Hauptperson", hast du mir einmal gesagt. Na ja, und das ist genau der Grund, warum dein Name nicht in der Liste steht. Tatsache ist, daß dieses Buch mein Leben ist, in einem gewissen Sinn sogar ich selbst. Und genauso wie HÄnde, FÝße, ein einziges Haar und selbst ein abgebrochener Nagel verschiedene Teile meines KÆrpers sind, sind einige Menschen die handelnden Personen dieses Buches. Niemand aber nennt sein Blut einfach einen Teil seines KÆrpers, richtig? Ohne Blut ist Leben an sich nicht mÆglich, ohne FÝße oder HÄnde aber schon - na ja, vielleicht nicht so lustig ... Wahrscheinlich sind meine Verwandten aus demselben Grund dort nicht angefÝhrt.
Warum dein Vater nicht dort ist, weiß ich nicht. Vielleicht, weil er kein wirkliches lebendiges Wesen ist, sondern eine Erscheinungsform der Macht Gottes, die nur in meiner NÄhe war, um an meinem Beispiel das KÆnnen eines Menschen zu zeigen. Vielleicht ist er eines dieser Wesen, die von Anfang an keine Seele hatten und deshalb nicht in einer Liste mit den Menschen stehen dÝrfen. Vielleicht gibt es auch einen vÆllig anderen Grund.
Alle anderen Personen bilden zwei Gruppen und folglich zwei Listen entsprechend ihren Rollen. Die Gesellschaft, die sich in der Liste 1 versammelt hat, ist sehr gemischt. Der JÝngste ist nur ein bißchen Älter als 20, der älteste ist nahezu 70, sie leben in verschiedenen LÄndern, und soviel ich weiß, kennen sie einander nicht. Einer ist mir persÆnlich nicht bekannt, ich habe ihn weder gesehen noch mit ihm geredet. Mit einigen habe ich wÄhrend des Schreibens manchmal geredet, mit einem habe ich regelmÄßig den Text besprochen, und einer hat es abgelehnt, sich mit mir zu unterhalten.
Was ist mit all diesen Personen? Warum sind sie alle da? Man kann auf all diese Fragen mit den ein wenig umgeschriebenen Worten von J. Brodski antworten: