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Es gibt kein Gott außer mir

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    Wenn ein Sterblicher dich als Allah vergöttert, gehört Dir auch seine Frau, selbstverständlich.

   
    Es gibt kein Gott außer mir
    Yuri Zimmermann
    (Memoiren eines Moskauer Casanovas VI)
            Deutsche Übersetzung - Klaus Kleinmann
   
  
Abb zu MMC-06 Kira [Helen Rabinovich]
    Es gibt kein Gott außer mir
   
    Ganz tief im hintersten Winkel der Seele verbirgt sich in jedem erwachsenen Mann ein kleines Kind, ein Säugling, der nichts anderes verlangt als Sättigung und Ruhe. Die warme, nahrhafte Milch der Mutterbrust verspricht dies in so reichem Maße, dass der unbezähmbare Drang entsteht, sich mit den Lippen an diesen göttlichen Halbkugeln festzusaugen, sie in Händen zu halten, den Kopf in die Vertiefung zwischen ihnen zu versenken und diesen wunderbaren Ort nie wieder zu verlassen.
   
    "Donnerwetter," so dachte ich voller Bewunderung, als jene junge Frau zusammen mit dem "Spion" auftauchte. Mit den Worten "Ziemlich warm hier" entledigte sie sich des dicken Pullovers und präsentierte ihren kräftig gebauten Körper in einem dünnen, eng anliegenden und ausgesprochen attraktiven Baumwoll-Shirt, dessen gesamte Fläche von ihrem wogenden Busen eingenommen wurde, so dass kein halbwegs sehfähiger Mann in der Lage gewesen wäre, den Blick abzuwenden. Ei, da gab es was zu schauen, da gab es was, um sich dran festzuhalten... Man konnte unseren Spion nur beglückwünschen!
   
    Im täglichen Leben hieß der "Spion" Igor, aber damals galt es in der jugendlichen Subkultur als äußerst unfein, seinen bürgerlichen Namen zu verwenden. Obwohl bis zur Ära des Internets, der Life Journals, der Blogs und Twitters noch ein ganzes Jahrzehnt vergehen sollte und obwohl noch niemand den blassesten Schimmer von dem Wörtchen "Nick" in seiner heutigen Bedeutung hatte, gab es damals - wie schon immer - das Bestreben des Menschen, sich eine andere, mehr äußerliche Bezeichnung zuzulegen. Vermutlich stammt dieses Bedürfnis aus heidnischer Vorzeit, wo man dem Feind durch die Preisgabe seines echten Namens magische Kräfte zugespielt hätte. So standen alle möglichen Spitznamen und Pseudo?nyme bei uns in üppiger Blüte, obwohl niemand plante, in nächster Zeit eine Bank auszurauben oder eine Revolution anzuzetteln. Mir selbst entlockten diese konspirativen Spielchen eher ein Lächeln, und mein damaliger Nickname "Mikki" unterschied sich kaum von dem Namen, auf den ich getauft worden war.
   
    Nun lernte ich also Kira kennen, am Kartentisch zwischen zwei Gläser billigen Rotwein, in einer der üblichen Ramschwohnungen, die irgendwelche Bekannte meiner Bekannten gemietet hatten.
   
    Die "Spionin" hatte damals den Status von Igors Braut, das Datum der Hochzeit stand bereits fest, und alle anderen hatten sich in gebührender Entfernung von diesem herrlichen Frauenzimmer zu halten: Der wackere Spion war ein breitschultriger, muskelbepackter Kerl von fast zwei Metern Wuchs, und der kleinste Versuch, seine Liebste anzubaggern, hätte dem glücklosen Schürzenjäger mit Sicherheit einen Nasenbeinbruch nebst Gehirnerschütterung eingetragen, ganz zu schweigen von einem Meer blauer Flecken. Aber die Beute war wirklich verlockend: Ganz anders, als ihr persischer Vorname vermuten ließ, stellte Kira eine echte russische Schönheit dar. Sie schien dem Gemälde eines russischen Klassikers XIX Jahrhunderts entstiegen zu sein, wohlgenährt und üppig gerundet, eine Frau wie Milch und Honig. Wie ich später erfuhr, stammte sie aus einem Dorf irgendwo in der Taiga, weit hinten in Sibirien, wenn nicht gar am Ochotskischen Meer. Neben ihrem wahrhaft formvollendeten Busen hatte sie kräftige Beine, weiche Schultern und ein blendend weißes Lächeln in ihrem runden Gesicht. Mit einem Wort, sie war ihrem Bräutigam eine würdige Partnerin. Gemeinsam sahen sie prächtig aus und wirkten wie füreinander geschaffen.
   
    In den folgenden Jahren kreuzten sich unsere Wege immer wieder bei gemeinsamen Bekannten. Das wurde von dem Umstand begünstigt, dass ein enger Freund des Spions, ein gewisser Anton mit Spitznamen "Mammut", mich aus irgend?welchen Gründen zum Lehrer und Mentor erwählte. Der junge Mann hatte erhebliche Probleme mit Selbstwertgefühl und Moti?vation, und ich als Hobby-Psychotherapeut konnte dem Mammut die eine oder andere Beratungs?sitzung nicht versagen, um ihm als älterer Freund - an Lebenserfahrung reicher und aus?gestattet mit einigen Kenntnissen in praktischer Psychologie - zu helfen, ein wenig Ordnung in sein Lebenschaos zu bringen und ihm ein paar nützliche Ratschläge zu erteilen.
   
    Ob in Begleitung des Mammuts, ob bei Hauskonzerten von Moskauer Barden oder auf Partys bei gemeinsamen Bekannten - immer wieder ergab sich die Gelegenheit, Kira und den Spion zu treffen. Wir kamen uns nicht besonders nahe, aber mir war immerhin bekannt, dass ihre Eheschließung erfolgreich verlaufen war, dem erbitterten Widerspruch seiner Eltern zum Trotz, und dass sie in einer Mietwohnung am Stadtrand von Moskau Quartier bezogen hatten. Wenn wir uns auch immer wieder zur gleichen Zeit am gleichen Ort befanden, so beschränkte sich unsere Unterhaltung doch auf Trinksprüche und auf Bardengesang zur Gitarre. Übrigens spielte ich damals gar nicht schlecht und gab bei einem Ernteeinsatz nahe Moskau aufgrund einer Wette sogar ganze Woche entlang allabendlich mehrstündige Konzerte, ohne auch nur ein einziges Lied zu wieder?holen. Und dann war da natürlich die unvermeidliche und allgegenwärtige "Préférence".
   
    Der Westeuropäer ist unfähig zu begreifen, was die "Préférence" für sowjetische Studenten bedeutete, für Ingenieure, Ärzte und andere Leute, die die Ehre hatten, sich zur "Intelligenz" zählen zu dürfen. Es heißt, dieses Kartenspiel sei gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Donau?monarchie erfunden worden. Spätestens zur Mitte des 20. Jahrhunderts war es jedoch im übrigen Europa schon weitgehend vergessen: Die Deutschen spielten Skat, die Engländer Bridge... Nur in den unermesslichen Weiten des mächtigen Sowjetimperiums feierte die Beliebtheit der Préférence fröhliche Urständ. Sie war geradezu ein Erkennungszeichen für Leute mit gehobener Bildung, und es galt als heilige Handlung, "ein Spielchen zu machen". Ich könnte nicht sagen, wie viel tausend Stunden meines Lebens ich selbst in Begleitung von zwei oder drei Gleichgesinnten damit zugebracht habe, am Spieltisch die zehn Karten zum heißersehnten "Stich" zusammenzufügen und auf sorgsam liniertem Papier einen Punkt für mich zu markieren.
   
    Tango tanzt man zu zweit, das ist sattsam bekannt. Préférence spielt man zu dritt, besser noch zu viert, aber wenn der Wunsch, die Karten zu dreschen, an der Abwesenheit eines Dritten zu scheitern droht, kann es schon Ausbrüche leidenschaftlicher als bei Shakespeare passieren.
   
    Daher war ich bass erstaunt, als Kira mich, der ich ihr nicht besonders nahe stand, eines Tages anrief und zu einer Partie Préférence zu sich und ihrem Mann einlud. Freie Zeit ließ sich erübrigen, und Lust verspürte ich sowieso. Also ja, herzlich gerne. Warum sollte ich mich nicht von dieser zauberhaften jungen Frau einladen lassen, auch wenn sie einem anderen gehörte - oder gerade, weil sie einem anderen gehörte...
   
    Letzteres kam der Wahrheit erheblich näher.
   
   "Entschuldige bitte", sagte Kira, als sie mir die Tür öffnete und mich in ihre Wohnung führte, "Igor ist gerade nicht zu Hause. Genau deswegen habe ich dich zu mir gebeten: Ich muss mich mal über verschiedenes aussprechen. Über meinen Mann, über mein Leben ganz allgemein... Du scheinst mir genau der Richtige dafür zu sein, zumal du dich ja in Psychologie auskennst."
   
    Ich finde kaum die passenden Worte, um zu beschreiben, was genau am Klang ihrer Stimme, an ihrer Intonation und ihren Gesten bei mir ein "Rädchen zum Laufen" brachte, aber eine innere Eingebung sagte mir prompt: "Ha, meine Süße, es scheint so, dass du mich schon in dein Bett eingeladen hast, auch wenn du selber das vielleicht noch gar nicht durchschaust!"
   
    Wir unterhielten uns an diesem Abend sehr ausführlich. Kira erzählte von den Schwierigkeiten mit ihrem Mann, von seinen ewigen Besäufnissen und Seitensprüngen, davon, dass sie sich nicht von ihm scheiden lassen könne, weil sie in Moskau nicht offiziell angemeldet war und kein Geld hatte, um sich eine Wohnung zu nehmen. Davon, dass die Schwiegereltern, die sich das ganze Leben lang nur in höchsten diplomatischen Kreisen bewegt hatten, sie als einfaches Mädchen vom Lande nicht anerkennen wollten und sich eine ganz andere Herzdame für ihr heißgeliebtes Söhnchen erträumten. Davon, dass es fast über ihre Kraft ging, ständig nach einer Möglichkeit Ausschau zu halten, wie sie ein paar Groschen dazuverdienen könnte, und wie sehr sie diese Arbeiten dann ermüdeten (in der Tat war damals allgemein bekannt, dass junge Eheleute oft in äußerst beengten materiellen Verhältnissen lebten). Im Rahmen meiner Möglichkeiten kommentierte ich ihre Darlegungen und gab ihr den einen oder anderen Rat.
   
    Schwer zu sagen, was an ihren Worten echt war - und was nur gespielt. Aber ihr Spiel, wenn es denn ein solches gab, erwies sich auf jeden Fall als äußerst professionell: Sie studierte Journalismus, und solche Leute lernen bekanntlich, wie man sich bei einem Gesprächspartner einschmeichelt und im Plauderton an brisante Informationen herankommt, wobei man vor keiner Hinter
   
    Allerdings bedurfte es weder bei ihr noch bei mir besonderer Anstrengungen, um unsere geheimen Wünsche in Einklang zu bringen, und sie ließ es mit offensichtlicher Freude geschehen, dass ich sie am Ende unseres Gesprächs an mich heranzog, um ihr ein Abschiedsküsschen zu geben.
   
    Nach dieser wechselseitigen "Absichtserklärung" vergingen allerdings noch mehrere Wochen, bevor wir uns im gleichen Bett wiederfanden. Wir trafen uns immer öfter, die Umarmungen wurden inniger, die Zärtlichkeiten eindeutiger - und schließlich war es dann so weit: Kira konnte sich für ein paar Stunden von ihrem eifersüchtigen Ehemann loseisen, unter dem Vorwand, sie habe "wichtige Dinge" am anderen Ende von Moskau zu tun.
   
    Ich fühlte mich wie der ärmliche Spießer, der eine Million im Lotto gewonnen hat. Oder wie der fanatische Pilzensammler, der sich im hoffnungslos leergefegten Moskauer Stadtwald plötzlich auf eine Lichtung verirrt, wo es von Stein- und Birkenpilzen nur so wimmelt. Nicht anders kann man die überwältigenden Gefühle beschreiben, die mich durchströmten, als ich das erste Mal zu den märchenhaften Schätzen ihres Körpers vordrang. Kira war unendlich zart und freigiebig, sie überließ mir den grenzenlosen Reichtum ihrer Sinnlichkeit bis zum letzten Tropfen, sie schenkte mir den selbstvergessenen Taumel und das überirdische Entzücken, das uns in diesem Maße nur die verbotene Frucht bescheren kann. Wie schon gesagt: Sie war die Frau eines anderen...
   
    Für mehr als ein Jahr wurde mir Kira nun zu einer echten Droge. Mir ihrem Bild vor Augen schlief ich ein und träumte nur von ihr, ich erdachte und fand jede noch so ausgefallene Möglichkeit, um sie zu treffen, um mich wieder und wieder zu den wogenden Halbkugeln ihrer Brüste niederzubeugen, um meine Hände an ihren vollen, straffen Schenkeln entlanggleiten zu lassen. Doch viel zu selten ergab sich solch ein romantisches Stelldichein! Es fehlte ihr ganz einfach an Bewegungsfreiheit, denn sie hatte zu studieren, den Haushalt zu führen, Geld herbeizuschaffen und ihren Mann bei Laune zu halten. Ich überschüttete meine Angebetete mit einem Meer von Versen und schrieb in einem davon: "Vierhundert Tage Schmerz für ein paar Nächte der Erfüllung..."
   
    Unsere Liebe ging zu Ende, als Kira endgültig verstand, dass ihr Mann ein hoffnungsloser Fall war und sich ernsthaft auf die Suche nach einer neuen Variante ehelichen Glücks begab. Ein Moskauer Casanova wie ich war dafür eindeutig nicht geeignet. Sie brauchte einen Millionär, und derer gab es im Lande der heraufdämmernden Perestroika schon genug. So geriet ich als gelegentlicher Trostspender allmählich aufs Abstellgleis, während sich ihre Suche nach einem neuen Sugar-Daddy und später möglicherweise einem Ehemann intensivierte und der Reigen möglicher Anwärter auf das Amt des Ernährers und Beschützers an Umfang zunahm.
   
    Nie werde ich den Tag (genauer gesagt: die Nacht) vergessen, in der uns beiden unwiderruflich klar wurde, dass der Spion nicht mehr zu retten war.
   
    An diesem Abend war ich länger als üblich bei der Arbeit geblieben. Ein langwieriges Experiment stand auf dem Plan, wonach wir unter Kollegen beschlossen, ein wenig zu entspannen und uns ein paar Gläser guten Weines zu gönnen, denn zum Glück hatte der Laden neben dem Institut noch spät abends geöffnet. Erst kurz vor Mitternacht zog ich heimwärts und hatte nichts anderes im Sinn, als schleunigst in mein Nest zu kriechen und mich in Morpheus' Armen zu wiegen.
   
    Doch da erhielt ich einen Anruf: "Mikki, ich flehe dich an, komm ganz schnell her: Um Igor steht es schlecht!"
   
    "MAYDAY, MAYDAY", nur so waren diese Worte zu verstehen. Es schien völlig unmöglich, darauf nicht einzugehen, ohne Rücksicht auf meinen Zustand, umso mehr, als hier die Frau meines Herzens höchstpersönlich um Hilfe rief. Schon die Tatsache, dass sie ihren Mann bei seinem bürgerlichen Namen nannte, zeigte eindeutig, dass die Lage äußerst ernst war. Nun sind Frauen ja rätselhafte, unergründliche Wesen, aber hier war restlos auszuschließen, dass die krampfhafte, fast erstickte Redeweise meiner Geliebten nur Ausdruck einer momentanen Hysterie (etwa aufgrund des berühmt-berüchtigten prämenstruellen Syndroms) sein konnte. Jedoch benötigte ich unbedingt ein paar Minuten, um wieder halbwegs nüchtern zu werden und mich dieser außergewöhnlichen Lage zu stellen. Daher antwortete ich knapp und eindeutig:
   
    "Höre, mein Schatz: Ich bin gerade erst nach Hause gekommen und brauche jetzt einen Moment, um klare Gedanken zu fassen. Ruf in einer Viertelstunde wieder an und sag mir das Gleiche noch mal. Wenn du das machst, komme ich sofort."
   
    Nach genau 15 Minuten war sie am Apparat. Bis dahin hatte ich schon zwei Tassen starken Kaffee geschluckt und mir kaltes Wasser ins Gesicht geklatscht, um mein Hirn in einen arbeitsfähigen Zustand zu bringen. Außerdem wählte ich aus meiner Sammlung einige Pillen, die zur Lage passen konnten, denn ich beschäftigte mich gerade mit angewandter Psychologie. Daher beherbergte ein Türfach meines Kühlschranks ein ansehnliches Inventar stimmungsverändernder Präparate verschiedenster Indikation.
   
    Als Kira wieder anrief, um mir die Lage mit den gleichen eindringlichen Worten zu schildern, war ich schon fast auf dem Weg zu ihr. Obwohl es sich offenbar um eine ernste Krise handelte, hatte ich keine Lust, mir ein Taxi zu leisten. Aber mit etwas Glück schaffte ich es, den nächsten Bus zu erwischen, in die Metro zu hüpfen, umzusteigen, danach mit dem O-Bus weiterzufahren, schließlich noch ein gutes Stück zu Fuß zurückzulegen und schon nach etwa 40 Minuten durch die Tür ihrer Wohnung zu schreiten, die mir wegen unserer heimlichen Rendez-vous so vertraut vorkam.
   
    Kira hatte nicht übertrieben: Der Spion saß mitten in der Küche und verteidigte sich mit einer eingebildeten Kalaschnikow gegen eingebildete Terroristen. Erstaunlicherweise schien er aber doch mit einem kleinen Teil seines Bewusstseins in der realen Welt verhaftet zu sein, denn er begrüßte mich mit den treffenden Worten: "Ach, hallo Mikki!" Doch dann klappte dieses Türchen gleich wieder zu und er machte mit seinem "Ra-ta-ta-taa" weiter, was die Geschossgarben einer automatischen Waffe zum Ausdruck bringen sollte.
   
    Kira tat so, als sei alles in bester Ordnung, kochte Tee und stellte Gebäck auf den Tisch. Während ich mich unter dem Gebell des antiterroristischen Waffengangs am heißen Getränk labte, erklärte Kira mit halblauter Stimme die Situation. Ich lauschte ihr aufmerksam und betrachtete dabei voller Staunen die Küchenwände: Jeder Winkel der Tapete war seit neuestem mit nachgeahmten, gleichwohl kalligraphisch ausgeformten arabischen Zeichen bedeckt, zwischen denen stellenweise (in anderer Farbe) wüste russische Kraftausdrücke standen. Zwei oder drei färbige Filzstifte, mit denen das Ambiente so einzigartig dekoriert wurde, lagen auf den Fußboden herum.
   
    Die Lage schien mir nun ausreichend klar. Ich versuchte, Kontakt mit unserem "Helden der Intifada" aufzunehmen und eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen. Zu meinem Erstaunen ließ er sich gerne darauf ein, wobei wir immer wieder durch Feuerstöße der erbitterten Schlacht unterbrochen wurden, die sich in einer anderen Welt abzuspielen schien. "Hast wieder danebengeballert, du Idiot!", unterstützte ich ihn, "halt mehr nach links und mach sie endlich kalt!"
   
    Die Lage schien mir nun ausreichend klar. Ich versuchte, Kontakt mit unserem "Helden der Intifada" aufzunehmen und eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen. Zu meinem Erstaunen ließ er sich gerne darauf ein, wobei wir immer wieder durch Feuerstöße der erbitterten Schlacht unterbrochen wurden, die sich in einer anderen Welt abzuspielen schien. "Hast wieder danebengeballert, du Idiot!", unterstützte ich ihn, "halt mehr nach links und mach sie endlich kalt!"
   
    Das Gespräch brachte noch andere interessante Einzelheiten zu Tage. Offenbar stand der verblichene Vater des Spions an seiner Seite. Ihm widmete er diesen unversöhnbaren Krieg gegen israelische Aggressoren, wobei er tiefe Weisheiten von sich gab, deren wichtigste lautete (wer hätte es anders gedacht): "Kampf bis zum letzten Blutstropfen!"
   
    Noch seltsamer als das anhaltende Feuergefecht mit den überlegenen Kräften blutrünstiger Okkupanten war aber, dass Igor auf eine Steckdose zeigte, die sich knapp über dem Fußboden befand, und murmelte: "Da! Da ist ES! ES hat sich versteckt, ES wartet, und bald kriecht ES heraus. Ganz bald, es dauert nicht mehr lange. Und dann ist alles aus, ES wird uns vernichten, ganz und gar mit Null multipliziert! Das ist das Ende, es gibt keine Rettung, für nichts und niemanden! Kapierst du das endlich?"
   
    Währenddessen hatte ich das Gespräch ohne Hast fortgeführt, wobei ich mich unausgesetzt bemühte, die Aufmerksamkeit meines Gegenübers mehr und mehr aus seinen Wahnbildern abzuziehen und ins Diesseits zu lenken. Dabei kamen alle Mittel zum Einsatz: meine behutsame, einlullende Intonation, sparsam angedeutete Hinweise auf Vorgänge des täglichen Lebens, die für Igor bedeutsam schienen, sogar ein glänzende Abzeichen, das ich mir vor meinem übereilten Verlassen der Wohnung mit voller Absicht ans Revers geheftet hatte. So versuchte ich die Aufmerksamkeit des Spions zu fixieren, damit er sich besser auf meine Suggestionen einlassen konnte.
   
    Nachdem ich ihn etwa eine halbe Stunde lang besprochen hatte, war der heldenhafte Kämpfer immerhin bereit anzuerkennen, dass es ihm nicht wirklich gut ging. Doch auf den sanften Vorschlag, er könne ein paar von den Tabletten nehmen, die ich mit mir führte, äußerte er heftig und kategorisch: "Auf keinen Fall! Das ist Gift! Dir vertraue ich natürlich voll und ganz, Mikki, aber trotzdem: Das ist Gift. Das haben sie in der Apotheke vertauscht und dir ein Toxin untergeschmuggelt, ich weiß es ganz genau."
   
    Aber für diesen Fall hatte ich noch ein Ass im Ärmel: Ein Lehrbuch der Psychopharmakologie, ebenfalls mit voller Absicht von zu Hause mitgebracht. "Also gut, mein Freund, lass uns das gemeinsam ansehen. Hier ist das Präparat, das ich dir anbiete. Schau dir die Indikationen an: Die sind identisch mit dem, was dich gerade bewegt. Und hier steht die Gegenanzeige: 'Von der Einnahme während einer Schwangerschaft ist abzuraten'. Na und, bist du zufällig gerade schwanger? Wirklich nicht? Dann ist ja alles klar: Du kannst es nehmen." Da ergriff er endlich eine Tablette und schluckte sie mit etwas Wasser hinunter.
   
    Und was geschah nun? Im Gegensatz zu Gift wirkt kein Medikament im nächsten Augenblick. Vor Ablauf einer halben Stunde war keinerlei Wirkung zu erwarten. Doch schon nach drei oder vier Minuten begann Igor in die Realität zurückzukehren, was sich auf die bloße Wirkung von Suggestion und Autosuggestion zurückführen ließ, auf den Placebo-Effekt also.
   
    "Oh Mikki, du hast ein Wunder vollbracht! Mir ging es gar nicht gut, ich war nicht bei mir selber, aber jetzt fühle ich mich schon besser, viel besser!"
    Doch wenig später füllte sich die Küche mit monotonem Gemurmel in echtem Arabisch, durchsetzt mit einem typischen, langgezogenen Jaulen: Igor sang Suren aus dem Koran, auswendig, eine nach der anderen, wenn auch mit einer bedeutsamen Abweichung: Statt dem Namen Allahs wiederholte er immer "Mikki".
   
    Der Spion hatte seinen Spitznamen nicht ohne Grund gewählt. Das "Institut für asiatische und afrikanische Kulturen" war zwar formal eine Fakultät der Moskauer Universität, in Wahrheit aber (und unter dem Siegel strengster Diskretion) eine Abteilung des sowjetischen Geheimdienstes, in der neue Kader für den Einsatz in Drittweltländern herangebildet wurden. Wie ich später erfuhr, sollte Igor nach der Beendigung seiner Studien in Afghanistan eingesetzt werden, wobei bewaffnete Auseinandersetzungen nicht auszuschließen waren. Daher also seine Kenntnisse des Arabischen und des Koran, ebenso der Gedanke an israelische Terroristen. Aber die Psyche Igors war offenbar schwächer als seine Muskeln, und er war ganz einfach übergeschnappt.
   
    Trotzdem war mein Werk vollbracht, die Krise dieser Nacht schien bewältigt zu sein. Ich blieb noch etwa eine Stunde, um mich zu vergewissern, dass Igor endgültig zur Ruhe gekommen war, und verabschiedete mich bei Tagesanbruch, als die Metro ihren Dienst wieder aufnahm.
   
    Natürlich ließ sich Kira scheiden, aber erst einige Jahre später, als sie schon ein anderthalbjähriges Töchterlein auf dem Arm trug. Mir jedoch blieb von dieser Nacht die Erinnerung an das allerhöchste Kompliment, das ich jemals erhalten habe. Ich gebe es ja zu: Mit Casanova verglich man mich recht häufig, weil ich meine Verdienste an der Liebesfront zum Teil seinen Unterweisungen verdankte. Mit Einstein auch, obwohl ich nur mal gerade so, aber wenigstens ansatzweise ein Wissenschaftler war. Nun schien ich sogar eines Vergleichs mit Allah würdig, dem wahren Gott, dem Schöpfer und Herrn alles Irdischen.
   
    Sehr angenehm, hol mich der Azazil!
   
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