Циммерман Юрий : другие произведения.

Die einsame Chrysantheme

Самиздат: [Регистрация] [Найти] [Рейтинги] [Обсуждения] [Новинки] [Обзоры] [Помощь|Техвопросы]
Ссылки:
Школа кожевенного мастерства: сумки, ремни своими руками
 Ваша оценка:
  • Аннотация:
    Was hat sie zusammengebracht; einen erfahrenen Moskauer Casanova und eine reife, aber unschuldige Vietnamesin? Am Donau-Ufer in der Nacht des Mondfinsternis?

   
    Die einsame Chrysantheme
    Yuri Zimmermann
   ( Memoiren eines Moskauer Casanovas - V)
   
  
Chrysantem []
   
   
Deutsche Übersetzung - Klaus Kleinmann
   
   
    Ost ist Ost und West ist West. Und wenn sie sich, Kiplings Ansichten zum Trotz, per Zufall doch einmal begegnen sollten, dann nur für einen kurzen Moment.
   
    Die junge Frau, von dem hier die Rede sein wird, hatte einen langen fünfsilbigen Namen, der üblicherweise mit "Wen" abgekürzt wurde. Sie sah entzückend exotisch aus, als ich sie zum ersten Mal im abendlichen Autobus erblickte. Sie trug einen grauen Regenmantel und einen breitkrempigen Filzhut, dabei ragte ihr Scheitel kaum anderthalb Meter über den Boden - eine kleine, süße Asiatin, die aber ausgesprochen seriös und intellektuell wirkte.
   
    Unser Bus fuhr alle halbe Stunde und war die einzige Möglichkeit, zum Zentrum Budapests zu gelangen, wenn man kein Auto hatte. Die Forschungseinrichtung, für das ich damals arbeitete, verfügte über einen kleinen Kernreaktor, und das dazugehörige Institut war, man kann ja nie wissen, etwas weiter weg in einem Wäldchen hinter dem Hügel versteckt, am äußersten Rande des Budapester Stadtgebiets. Der Arbeitstag begann morgens um sieben, und nach sieben Uhr abends fuhren nur einsame, vollkommen der Wissenschaft verfallene Ausländer zurück, so wie ich einer war - von einer Welle brüderlicher Solidariät ins befreundete Ungarn gespült. Das brachte durchaus Vorteile mit sich: In Ungarisch war ich, vorsichtig gesagt, nicht sehr stark, aber die junge Dame las ein Buch mit eindeutig englischem Titel. So lächelte ich ihr bei der ersten Begegnung zu, bei der zweiten Begegnung lächelte sie zurück, und bei der dritten begrüßte ich sie fachmännisch mit: "Hello, how are you?"
   
    Die asiatische Spielart des Englischen ist etwas ganz Besonderes: Der Bewohner fernöstlicher Länder kann eine Silbe umöglich mit einem Konsonanten beenden. Nach einigen Wochen des Trainings begann ich zu begreifen, dass Wens "Vely nai" so viel bedeutete wie "Very nice", und dass "Gu nai" "Good Night" heißen sollte, aber damals, beim ersten Kontakt, entnahm ich ihrer Äußerung kein einziges bekanntes Wort, konnte allerdings aus ihrer Intonation schließen, dass sie meinen Gruß nicht zurückwies, sondern mich im Gegenteil eher ermunterte. Und als ich mich am nächsten Abend zu ihr setzte, entspann sich ein ungezwungenes Gespräch, so dass kein Fremder an einer guten Bekanntschaft oder gar Freundschaft hätte zweifeln mögen. May I? - Oh yeah, shu"ely.
   
    Wenn sich zwei ungebundene Erwachsene zueinander hingezogen fühlen, stellen Sprachbarrieren kein ernsthaftes Hindernis dar. Doch nur durch Versuch und Irrtum ist herauszufinden, wie weit Sie und Ihre Auserwählte bereit sind, die Sache zu einer romantischen Beziehung auszuweiten. So wandelte unser kleiner Flirt ganz langsam, aber unausweichlich auf den schon seit langem vorgezeichneten Pfaden: Gemeinsamer Kinobesuch, Kaffee und Kuchen, Spaziergang im Mondschein...
   
    Ach, lieber Mond, erhabener Beschützer der Poeten, Diebe und Liebespaare! Riesengroß, gleißend hell und unverschämt rund throntest du damals in aller Pracht über dem wunderbaren Panorama der Stadt, als Wen und ich uns das erste Mal küssten. Das geschah auf dem Berge Gellert, auf dem der gleichnamige Heilige vor Zeiten ungarisch-heidnische Barbaren durch Taufe zu Christen befördert hatte. Wir standen fast auf dem Gipfel. Unter uns schob die behäbige Donau ihre Fluten einher, vor uns präsentierte die bronzene Schutzpatronin Ungarns mit beiden Händen ihren monumentalen Lorbeer, und über ihr und allen möglichen Sternen und Sternchen glänzte die silberne Scheibe des Erdtrabanten... Von einem bestimmten Augenblick an begann jedoch ein dunkler Schatten über seinen Rand zu gleiten, anfangs kaum merkbar, als wolle er heimlich ein kleines Stück des leuchtenden Rundes abbeißen (nicht umsonst geht die volkstümliche Rede, der Mond bestehe aus Käse), dann aber knabberte er immer schneller an der blendend hellen Scheibe und verwandelte sie schließlich in einen kaum mehr wahrnehmbaren, bräunlichen Klumpen...
   
    Es wäre unverzeihlich gewesen, meine püppchenhafte Begleiterin zur Zeit der Mondfinsternis nicht zu küssen. Das sprach ich auch ganz offen aus, umfasste behutsam ihre Schultern und neigte meinen Kopf zu ihrem verständigen, in diesem Moment aber gänzlich unbedarften Gesicht, das genauso rund war wie der Mond. Zu meiner Verwunderung wollte jedoch keine bescheidene und unschuldige Berührung ihrer Lippen gelingen. Meine schüchterne Wen, die bisher stets darauf bedacht war, mich in gebührender Distanz zu halten, warf sich mir plötzlich voller Lust entgegen, mit einer Wildheit, wie ich sie ihr niemals zugetraut hätte. Sie schmiegte sich mit ihrem ganzen Körper an mich, gab mir verzückt ihre Lippen hin und nahm die meinen gierig in Besitz. Als es uns endlich gelang, voneinander abzulassen, war die Mondfinsternis schon fast vorbei, Frau Luna trat wieder in ihre alten Rechte ein und beleuchtete sorgsam unseren Weg heimwärts in die Zivilisation.
   
    "Einen Schritt vor, einen zurück" - so geht der erste "Pas" im uralten Spiel zwischen Mann und Frau. Etwas zog die junge Dame eindeutig zu mir hin, daran gab es keinen Zweifel. Doch verbat mir Wen auf entschiedene, wenn auch diskrete Weise, unsere Beziehung zu vertiefen. Umarmen und küssen - bitte sehr, mit dem größten Vergnügen, aber nichts weiter, obwohl meine Ungeduld und mein Verlagen mit jeder Begegnung wuchsen. Und wir trafen uns nun fast jeden Tag.
   
    Es waren interessanten Zeiten, lebten wir doch in der Periode des großen Umbruchs am Ende der 80iger Jahre. Herrn Dr. Kohls "Mantel der Geschichte" war tatsächlich zum Greifen nahe, und beinahe täglich eröffneten sich neue Schlupflöcher aus dem sozialistischen Lager hinaus in die große, weite Welt. Nehmen wir nur das Kino: Wir sahen damals in einer Tour Streifen wie "Der letzte Tango in Paris" mit Marlon Brando, "The Wall" von Pink Floyd und die berühmt-berüchtigte "Emanuelle"... All diese Filme hätten wir vor fünf Jahren höchstens unter der Rubrik "Westliche Verirrungen" aus der Zeitung kennen gelernt. Die "Venusfalle" von Robert van Ackeren beeindruckte Wen und mich besonders. Zwar lief der Film auf Ungarisch und ich verstand kein einziges Wort, aber die Bilder genügten vollauf, zumal mir Wen hier und da eine kurze Erklärung in ihrem Englisch zuflüstertete.
   
    Die eindringliche Erotik der Bilder, ihr machtvolles Rufen, drang bis in Freudsche Tiefen des Unterbewusstseins, zumal sie auf brisante Weise mit Ironie durchsetzt waren, die manchmal bis zum Sarkasmus ging - kurz: die Eindrücke wirkten unglaublich intensiv, und wir fielen uns heftig in die Arme, kaum waren wir dem Zuschauerraum entronnen. Die Winter in Budapest sind warm, und Wens dünnes Mäntelchen enthüllte mehr, als es verbarg... Es hätte sich schon gelohnt, meine Hand ein wenig tiefer in Richtung von Wens Busen wandern zu lassen, aber sie wich zur Seite, erhob ihre Augen und fixierte mich mit ihrem kindlichen Silberblick:
   
    "Ich sollte wohl etwas mit dir besprechen... Du darfst nicht denken, dass du mir nicht gefällst. Du gefällst mir sogar sehr! Wahrscheinlich wunderst du dich, warum ich mich so verhalte, warum ich nicht so bin wie die anderen."
   
    Hier machte sie eine kurze Pause, schöpfte Atem und hauchte schließlich, als wolle sie beichten: "Also weißt du, ich bin noch Jungfrau". Sie schwieg einen Moment und fügte hinzu: "Nach Sitte und Brauch meines Landes muss ich unschuldig in die Ehe gehen. Und ich bin noch nicht verheiratet." Mit einem tiefen Seufzer sprach sie dann: "Eigentlich wäre ich es ja beinahe gewesen..."
   
    Hier machte sie eine kurze Pause, schöpfte Atem und hauchte schließlich, als wolle sie beichten: "Also weißt du, ich bin noch Jungfrau." Sie schwieg einen Moment und fügte hinzu: "Nach Sitte und Brauch meines Landes muss ich unschuldig in die Ehe gehen. Und ich bin noch nicht verheiratet." Mit einem tiefen Seufzer sprach sie dann: "Eigentlich wäre ich es ja beinahe gewesen..."
   
    Ach, so war das also: Die gute Wen war noch Jungfrau. Virgo intacta. Einen Moment hatte ich schon an diese Möglichkeit gedacht, sie aber gleich wieder als unrealistisch verworfen. Doch nun brachte mich das auf die Frage zurück, über die ich mir schon seit der ersten Woche den Kopf zerbrach: Wie alt mochte sie wohl sein?
   
    Mir als Europäer fällt es schwer, das Alter asiatischer Frauen nach ihrem Gesicht zu beurteilen. "Du bist halt weiß, und ich bin gelb", sagte sie eines Tages, und brachte mich damit zum Staunen, denn mir wurde klar, dass sie das ernsthaft störte. Als Bürger der UdSSR war ich zwar gelegentlich mit Nationalitätsproblemen konfrontiert, niemals aber mit Rassekonflikten: "Mein Schatz, wir sind doch nicht in Chicago!" Ich versuchte... Seitdem versuchte ich immer wieder, das Alter meiner neuen Bekanntschaft zu bestimmen, konnte mich aber lange nicht zu der direkten Frage entschließen: "Sag mal, wie alt bist du denn eigentlich?" Schließlich nahm ich doch all meinen Mut zusammen und fragte sie, obwohl das nicht unbedingt gentlemen-like war. Sie lächelte süß und senkte schüchtern den Blick.
   
    "Na ja, vor einiger Zeit war ich 18."
   
    Schön gesagt, ganz vortrefflich. Doch nach meinem beschränkten Verständnis musste sie die 40 schon etwa erreicht haben, plus-minus zwei Jahre. Schauen Sie selbst: Sie plapperte eines Tages aus, dass sie in Kriegszeiten geboren wurde, weshalb ihre Eltern es besonders schwer gehabt hätten. Nehmen wir an, das es sich um den Krieg gegen die Amerikaner handelte, der 1965 begann. Rechnen wir eine abgeschlossene Hochschulausbildung und ein Postgraduiertenstudium dazu, das sie berechtigte, die Buchstaben Ph. D. vor dem Namen zu führen, überlegen wir weiter, wie lange sie dem kommunistischen Vietnam treu gedient haben musste, um einen Forschungsauftrag im Ausland zu bekommen - dann wird klar, dass man das mit 18 Lenzen unmöglich geschafft haben kann. Und der Krieg davor, gegen die Franzosen, endete bereits 1954. Vergessen wir außerdem nicht, dass ihre Eltern schon an die 80 waren, und sie das dritte von acht Kindern...
   
    Bei alledem wirkte Wen aber keineswegs wie eine alte Jungfer (so hätte man ein vierzigjähres "Fräulein" bei uns in Europa ganz sicher bezeichnet). Sie war temperamentvoll, quirlig, lebenslustig und - mit einer gewissen Einschränkung - neugierig auf Unbekanntes, suchte sehr aktiv nach frischen Erfahrungen und Gefühlseindrücken... Und ausgerechnet sie wollte ihre sorgsam gehütete Unschuld in der Hochzeitsnacht feierlich dem Mann fürs Leben überreichen. Doch schade: Ich war unter keinen Umständen bereit, mich selbst in dieser Rolle zu sehen. Meine Wen nahm ihre message aber äußerst ernst, daher wäre es mehr als schändlich gewesen, ihr das zarte Blümchen unter Vorspiegelung falscher Versprechungen zu entreißen und hinterher keine Ehe mit ihr einzugehen.
   
    Zum Glück gibt es im Garten der Lüste viele Seitenwege, am zentralen Einlass vorbei. Es lohnte sich durchaus, auf ihren keuschen Wunsch Rücksicht zu nehmen und nicht im anatomischen Wortsinne in sie zu dringen, denn unsere Romanze erfuhr trotzdem eine durchaus körperliche Entwicklung und Reifung, wenn diese auch vom Erscheinungsbild her eher pubertierenden Teenagern entsprochen hätte.
   
    Ob es nun an der Einwirkung gewisser chemischer Kampfstoffe oder an einer unglücklichen Verknotung von Genen lag, die Beine meiner Angebeteten erwiesen sich als kaum tauglich zum aufrechten Gang. So schlank und dünn wie sie waren, riefen sie beinahe Mitleid und Sorge hervor. Aber die lockende Tiefe zwischen ihnen war von betörendem Geschmack, herb und erregend. Der zarte Blütenkelch, der den Eingang in das verbotene Tal der Wünsche umrahmte, gewöhnte sich schnell an die Berührungen meiner Hände, meiner Zunge, meiner Lippen, und Wens Busen brachte mich restlos um den Verstand: Volle, saftige, feste Brüste, die noch kein Säugling ausgenuckelt hatte, mit kleinen, straffen Nippelchen, die sich willig meinen Küssen entgegenstreckten. Kaum waren zwei, drei Wochen vergangen, da gehörten lange, hingebungsvolle Streicheleien zum unverzichtbaren Ritual unserer Zweisamkeit, denen wir uns bis zur Verzückung widmeten, sei es nun in freier Natur oder bei mir zu Hause, wenn Wen mal auf ein Tässchen Tee vorbeikam. Kurz, unsere Körper harmonierten prächtig, allerdings in den oben beschriebenen Grenzen.
   
    Das will jedoch nichts über unsere seelische Harmonie aussagen. Leider entdeckte ich nach und nach, dass ich die Partnerin meiner Schäferstündchen in keiner Weise verstand. Ich war einfach nicht fähig dazu, und das lag keineswegs an den seltsamen Umständen unserer Beziehung und auch nicht daran, dass wir in einer Sprache kommunizierten, die nicht die unsere war. Vielmehr war ihre Denkweise selbst für mich einfach nicht nachvollziehbar. Hickhack und Zickereien ohne jeden Anlass, andauernde Vorwürfe und Verdächtigungen in Anbetracht der Tatsache, dass ich nicht erst seit gestern auf dieser Erde wandelte und keine unberührte Jungfrau mehr war, bereits die Last zweier Scheidungen auf meinen Schultern trug und recht genau wusste, wie ein Frauenzimmer "funktioniert"... So nervte Wen mich beispielsweise einen ganzen Abend lang mit der Frage, warum ich sie "angelogen" hätte, wobei ich ihr gewiss zu keiner Zeit irgendwelche Geschichten erzählt hatte, die unter dem Titel "Wahr oder unwahr?" hätten rangieren können - in meinem bescheidenen Verständnis jedenfalls.
   
    Nach unserem Besuch beim Rock-Festival wurde mir dann endgültig klar, dass wir in verschiedenen Welten lebten.
   
    Damals erbebte ganz Budapest wegen der Jagd auf Ceausescu in den Grundfesten. Die Unruhen im benachbarten Rumänien und das tödliche Ende des Diktators, die Unterdrückung der dortigen ungarischen Minderheit... Fast jeder Bewohner Budapests konnte sich von irgendwelchen fernen Verwandten in Transsylvanien herleiten, die dortigen Wirren ließen also niemanden kalt. Radio und Fernsehen brachten auf allen Kanälen zu jeder halben Stunde die neuesten Neuigkeiten über die Verfolgung des entflohenen Staatschefs und seiner Ehefrau. Endlich wurden die Flüchtigen gefasst, einem Gericht überstellt und in aller Eile hingerichtet, aber die Ungarn kamen deswegen noch lange nicht zur Ruhe. Das kaum eine Woche danach stattfindende Hardrock-Festival wurde "Dracula" genannt und bekam als Emblem das Gesicht Nicolae Ceausecus, dem man Vampirzähne aufgemalt hatte.
   
    Das Festival machte seinem Namen alle Ehre (heutzutage würde man es "gothisch" nennen, aber diese Bezeichung war damals noch nicht im Schwange): Ohrenbetäubendes Gewummer erfüllte den brechend vollen Saal, die Texte der Lieder waren als Kinderschreck geignet, die Kostüme der Ausführenden schienen einem Mummenschanz à la Hollywood zu entstammen, und das Publikum skandierte zu jedem Lied die Unglück verheißende Zahl: "Tiz-en-három! Tiz-en-három!", was auf Ungarisch soviel wie "13" heißt.
   
    Leider standen in diesem riesigen Hexenkessel, wo man die Unschuld der Seele verlieren konnte, keine Sitzplätze zur Verfügung, und Wen in ihrer gnomenhaften Gestalt war es hinter der geschlossenen Wand frenetisch tanzender Rücken aus rein physischen Gründen unmöglich, die Bühne zu sehen. So blieb mir nichts anders übrig, als meine miniaturhafte Begleiterin hochzuheben und sie mir auf die Schultern zu setzen. Die Begeisterung, die das bei ihr auslöste, war schlichtweg unbeschreiblich. Hoch über allen anderen thronend, brüllte sie wie der Sportsfreund beim Finale des Fußballpokals, sie schrie, sie pfiff, sie schwenkte verzückt die Arme im Takt der wahnsinnigen Musik, während ihr ergebener Diener die Rolle des Reitpferdes spielte und sich nicht nur an den Klängen der Musik berauschte, sondern auch an der Hitze seiner ekstatischen "Besitzerin", die sich dem Hals sogar durch die feste Jeans hindurch übertrug.
   
    So leicht Wen auch sein mochte, irgendwann erreichte meine Belastbarkeit doch ihre Grenzen. Wir gingen also nach draußen, um ein wenig durchzuatmen, die Köpfe auszulüften und unsere Kehlen mit einigen Schlucken des dort zum Verkauf angebotenen Cola-Getränks zu laben. Während wir unsere Eindrücke vom Konzert austauschten, glitt unser Gespräch unmerklich zu anderen Themen über, zur Wirkung der Musik auf den Menschen überhaupt, zu allgemein menschlichen Verhaltensmustern und Typen... Und da kam es mir in den Sinn, ihr einen simplen psychologischen Test vorzuschlagen, den ich recht gut kannte (einige Jahre vor den hier zu beschreibenden Ereignissen erwog ich nämlich, den Beruf zu wechseln und mich vom Wissenschaftler zum Psychiater umschulen zu lassen, wovon mir noch manches in Erinnerung geblieben war).
   
    Die Aufgabe ist ganz einfach: Der Proband wird gebeten, ein Tier zu zeichnen, das es nicht gibt. Es handelt sich dabei um einen freien Assoziationstest, bei dem der Prüfer streng darauf achten muss, die Aufgabenstellung nicht zu konkretisieren und auf Erklärung heischende Fragen nur papageienhaft antworten darf: "Ein Tier, das es nicht gibt: Das ist ein Tier, das in der Natur nicht vorkommt. So einfach ist das." Kennt man die Interpretationsmuster und verfügt über eine gewisse Erfahrung bei der Auslegung, dann kann man anhand der abgelieferten Zeichnung einiges über ihren Urheber sagen. Nachdem ich an die dreihundert Testprotokolle ausgefertigt hatte, wusste ich solche Bilder schon ziemlich sicher zu deuten und konnte mich davon überzeugen, dass die Leute meistens recht ähnlich konstruiert sind, denn ein im Wortsinne ungewöhnliches "nicht existentes Tier" stellt die seltene Ausnahme dar.
   
    Doch meine Mandeläugige hielt mir beschwörend entgegen: "Was soll denn das sein, ein Tier, das es nicht gibt? Keine Katze, kein Hund und kein Elefant? Ich kapier das nicht!" Das Rock-Festival war vergessen, wir standen in der Eingangstür mit den ihres bräunlichen Inhalts beraubten Colaflaschen in der Hand und versuchten eifrig zu ergründen, durch welche Eigenschaften sich wohl ein solches Tier als "nicht existent" erweisen könnte. Schließlich war ich die Erklärungen leid, pfiff im Geiste auf den mit ihr ganz offenbar undurchführbaren Test und ließ mich dazu hinreißen, ihr ein konkretes Beispiel zu liefern (was ansonsten vor dem Test unter allen Umständen hätte unterblieben müssen):
   
    "Also hör zu, Engel: Du bist theoretische Physikerin, Spezialistin für die Thermodynamik instabiler Systeme, du bist Wissenschaftlerin und trägst einen Doktortitel. Du weißt doch, dass Drachen in der Natur nicht vorkommen, sondern nur in eurem fernöstlichen Kalendarium. Dann mal mir halt einen Drachen, das wäre auf jeden Fall so ein nicht existentes Tier."
   
    "Ach, ich soll einen Drachen malen", rief meine Süße fröhlich aus.
   
    "Natürlich nicht, mein Schatz. Ich hab dir nur ein Beispiel gegeben, aber das bedeutet, dass der Test jetzt nicht mehr stattfinden kann. Lass gut sein, gehen wir heim."
   
    Das Festival wechselseitigen Nichtverstehens setzte sich fort, nachdem ich Wen heimgebracht hatte, mich beim Abschied auf einen langen Kuss beschränkend, und nun an der nächsten Straßenbahnhaltestelle auf die Tram wartete, die mich zu meinem eigenen Domizil bringen sollte. Genauer gesagt, zu jenem Hause, in dem meine ungarischen Arbeitgeber für mich eine üppige Wohnung angemietet hatten, in der ich während meiner Dienstreise weilte. Mitternacht zog näher schon, am samtschwarzen Himmel funkelten die über ihn ausgestreuten Sterne, nur sollte bis zur nächsten Trambahn, mochte man dem Fahrplan Glauben schenken, leider noch eine geraume Zeit vergehen. Ich beschloss, diese Lücke mit philosophischen Nachforschungen über den Sinn des Lebens zu füllen, doch wurde meine lyrische Stimmung vom Auftauchen eines seltsamen Männchens unterbrochen, das der Haltestelle zustrebte und sich aus unerfindlichen Gründen nicht entschlagen konnte, mit mir Kontakt aufzunehmen.
   
    Das Kerlchen war stoppelbärtig, ziemlich angedüdelt und offensichtlich den Pennern zuzurechnen. Glücklicherweise war er nicht auf Randale aus, sondern setzte mir des Langen und Breiten ungarische Gedankengänge auseinander und erwies sich in keiner Weise aufnahmebereit für meine zwei schüchternen Sätze in der Lokalsprache ("Botschanem" und "Nem ertem"). Mein russisches "Tut mit Leid" und "Ich verstehe nicht" beeinflussten ihn ebenso wenig wie meine Versuche, mich des Englischen oder Französischen zu bedienen.
   
    Vielleicht wollte er ja nur "Hasse mal 'ne Mark?" sagen, so überlegte ich. Das Stipendium, das mir die Ungarische Akademie der Wissenschaften zugebillligt hatte, reichte kaum zur Befriedigung des Existsenzminimums, doch gerne hätte ich ein paar Klimpermünzen investiert, um mich der mitternächtlichen Plaudertasche zu entledigen. Das Zücken meines Portemonnaies rief jedoch bei diesem Vogel eine Wirkung hervor, die der erwarteten diametral zuwiderlief: Er kramte selber ein Bündelchen zerknautschter Geldscheine aus dem Hosensäckel hervor und schickte sich an, sie mir in die Hand zu drücken, während ohne Unterlass selig lallendes Gebrabbel auf Ungarisch aus ihm hervorquoll. Dann schenkte er mir noch einen mildtätigen Blick und verschwand im Dunkel der Nacht.
   
    Welch unerwarteter Glücksfall! Das mir aus heiterem Himmel zugeflossene Sümmchen reichte voll und ganz für ein gepflegtes Diner zu zweit in einem Restaurant gehobener Klasse. So und nicht anders beschloss ich meine Beute anzulegen, und wartete sehnlichst auf die schon überfällige Straßenbahn, konnte doch dieser wunderliche Magyare jeden Moment wieder auftauchen und sein Geld zurückfordern.
   
    Oh weh, da kam doch mein nächtlicher Abenteurer tatsächlich wieder! Als Ehrenmann, der ich nun einmal war, streckte ich ihm seine schmuddeligen Lappen entgegen, in der festen Absicht, sie ihm zurückzugeben.
   
    "Hey, was is'n los mit dir, Alter? Hast du einen an der Klatsche, oder was?" So oder so ähnlich waren, der Intonation zufolge, die fremdartigen Laute wohl zu übersetzen, mit denen der Unbekannte über mich herfiel. Er grinste verächtlich und ließ einen erneuten Goldregen auf mich niedergehen, da bimmelte endlich die heißersehnte Straßenbahn heran. Na ja, dann schönen Dank, mein Bester, kjosenem sepanjok, wie das bei euch wohl heißt. Ich mache mich jetzt mal vom Acker und gehe ganz brav in die Heia.
   
    Am nächsten Morgen erzählte ich die sonderbare Geschichte meinen Kollegen, als man mich unvermittelt ans Telefon rief. Aus dem Hörer ertönte die fröhliche Stimme von Wen: "Komm mal schnell raus, ich muss dir was zeigen!" Sie arbeitete im Institut nebenan, und wir trafen uns in dem kleinen Park zwischen den Gebäuden. "Da, schau mal, was ich für dich gezeichnet habe: Ein Tier, das es nicht gibt!" Ich hatte schon mehrere hundert Darstellungen von "nicht existenten Tieren" gesehen, aber was ich jetzt auf dem Zeichenblatt erblickte, das Wen in der Hand hielt, war absoluter Unsinn.
   
    "Na gut, meine Süße, könntest du mir deine Zeichnung vielleicht ein bisschen genauer erklären? Was ist das denn für ein Tier, welchen Körperbau hat es und wie bewegt es sich?"
   
    Wens Antwort war ziemlich lakonisch und einsilbig, aber sie haute mich regelrecht um: "Das hier ist der Mond, auf dem wächst eine Pflanze, und darunter sitze ich, ganz allein." "Und all das zusammen ist ein Tier, das es nicht gibt?" "Na ja, klar doch!"
   
    Das verschlug mir völlig die Sprache, und mir wurde ein für alle mal klar: Ost ist Ost und West ist West. Niemals würde ich fernöstliche Gedankengänge nachvollziehen können. Eines aber verstand ich doch, nachdem ich über unsere Beziehung nachgedacht hatte. Es war ganz offensichtlich so, dass nicht etwa die elterliche Erziehung und ihre mit der Muttermilch aufgesogenen Regeln meine Wen bestimmten. Nein: Nur ihre allen Widerständen zum Trotz verteidigte Jungfernschaft belastete ihre Seele! Bewusst oder unbewusst provozierte mich meine Auserwählte ständig zu einem entschieden "männlichen" Vorgehen. Wie sagten doch empfindsame Damen aus besseren Kreisen am Ende des 19. Jhds. zu ihren Sportsfreundinnen: "Ich hoffte, er würde mich heiraten. Oder mich wenigstens vergewaltigen." Leider verbot mir ersteres der gesunde Menschenverstand, und sie zu vergewaltigen war mir aus Gründen meines elementaren Ordnungssinns nicht möglich. Wir erschöpften uns also nach wie vor darin, uns immer näher an jene letzte Grenze heranzutasten, ohne sie jemals zu überschreiten. Schließlich blieb Wen die ganze Nacht bei mir - oh, welch unendlich süße Qual, innig umarmt mit ihr im Bett zu liegen, Arm in Arm, die Lippen aufeinander gepresst, mit ineinander verschlungenen Beinen, ohne uns die Lust vollkommener Einheit zu gönnen. Je näher das Ende meiner Dienstreise rückte, desto unerträglicher und schmerzlicher wurde das Gefühl der Unerfülltheit wechselseitigen Verlangens.
   
    Am letzten Abend, als Wen zu mir kam, um mit mir die restlichen Sachen zu packen und mich zum Bahnhof zu begleiten, hielt ich es einfach nicht mehr aus. "Verzeih, meine Liebe, aber das geht wirklich über meine Kraft. Du hast sicher schon die ganze Zeit über durch meine Zunge und meine Hände Befriedigung erfahren, so gib mir wenigstens einmal das Gefühl der Entladung und Entspannung: Heute!"
   
    Mir ist völlig unklar, warum ich sie darum nicht schon früher gebeten hatte. Diesmal jedenfalls umfasste Wen mit Hingabe meine bis zum Bersten gespannte Männlichkeit mit ihren Lippen und versuchte lange, mich zum Gipfel zu führen. Aus irgendwelchen Gründen klappte das aber nicht, obwohl wir uns redlich darum bemühten, und die Zeit verstrich gnadenlos, denn vor dem Haus wartete schon das Taxi, das mich zum Bahnhof bringen sollte. Da entschloss ich mich, den anderen Eingang zu benutzen, genauer gesagt, den dritten, der zur Verfügung stand. Wen war dermaßen erregt, dass sie sich mir willig öffnete, als ich an einer Stelle in ihre Tiefe eindrang, wo sie niemals jungfräulich war und es niemals sein würde... Endlich war ich am Ziel meiner Wünsche, endlich waren wir vereint - und nach wenigen Augenblicken war alles vorbei.
   
    "Ach, was hast du gestöhnt! Du hast ja so was von gestöhnt!", trällerte meine Gespielin, als sie sich nach der Dusche eilig abtrocknete. Es blieb keine Zeit mehr, das Geschirr zu spülen. Wir stopften die Koffer zu und rannten dem Haustor entgegen. Keine halbe Stunde später standen wir schon in meinem Waggon auf dem Budapester Ostbahnhof und nahmen Abschied für immer. Farewell, my love!
   
    Langsam tuckerte der Zug davon, meiner Heimat Moskau entgegen. Wen blieb auf dem Bahnsteig zurück, meine einsame Chrysantheme, mein erlesenenes aisatisches Blümchen, mein "nicht existentes" Lebewesen...
   
   "Oh je, wie das arme Mädchen weint", sagte die Mitreisende im Abteil einfühlend zu mir, eine elegante und sehr gepflegte Dame aus Aserbaidschan in mittleren Jahren. Ironie des Schicksals: Genau sie wurde meine nächste Geliebte - doch davon ein andermal.
 Ваша оценка:

Связаться с программистом сайта.

Новые книги авторов СИ, вышедшие из печати:
О.Болдырева "Крадуш. Чужие души" М.Николаев "Вторжение на Землю"

Как попасть в этoт список

Кожевенное мастерство | Сайт "Художники" | Доска об'явлений "Книги"