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Frau in Weiß

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    Eine schlaflose, aber abenteuerliche Nacht in dem "Kurzweiligen Garten" mitten Moskau. Nach dem Abend in einem atheistischen Verein, deren Mitglieder eigentlich sehr religiös waren.

   
    Frau in Weiß
    Yuri Zimmermann
   ( Memoiren eines Moskauer Casanovas - II)
   
  
Der kurzweilige Garten []
   
   
Deutsche Übersetzung - Klaus Kleinmann
   
   
    Sie war blond und hiess Albina. Aber nicht nur deswegen blieb sie mir als "Frau in Weiß" im Gedächtnis.
    Als sie nämlich damals auf mein Betreiben unseren "atheistischen Sabbath" besuchte, war sie ganz und gar in Weiß gekleidet - weiße Sandalen, weißes Top und weißer Rock. Ich hatte sie ein halbes Jahr vorher im Klub von Eduard kennen gelernt. Dieser Salon war recht ärmlich, und die meisten Leute verschwanden nach zwei oder drei Besuchen auf immerdar, aber an deren Stelle erschienen stets wieder neue Leute, die der unermüdliche Eddie von wer weiß woher auftrieb. Ich selbst ging in unregelmäßigen Abständen hin, weil ich trotz allem hoffte, dass sich aus diesem Gewusel mit hochintellektuellen Ambitionen eines Tages noch etwas Ganzes formen könnte, so wie früher einmal aus dem "bunten Haufen" Peters des Großen schließlich die Russische Armee entstand. Außerdem war Eduards Klub eine wunderbare Spielwiese, auf der ich in aller Ruhe und Beständigkeit mein pseudokommunistisches Ideenkonvolut ausbreiten konnte - von der "Versuchung des Hl. Antonius" bis zur marxistisch-leninistischen Theorie der Meditation.
    Dort also traf ich dieses 19-jährige Gesicht (oder Gedicht?) mit seinen unergründlichen Augen, in denen der kundige Beobachter ein seit Kindertagen schwelendes Leid vermuten konnte. Meist sagte sie an diesen Abenden keine zehn Worte, wohl aus Angst vor der eigenen Mama, denn die war Stammgast des Salons und gleichzeitig Eduards Favoritin. Aber die höchst seltsame Mischung aus Neugier und Skepsis in ihrem Mienenspiel erweckte meine Neugier, denn sie entsprach ziemlich genau meinem eigenen Eindruck von den Versammlungen bei Eduard, und ich begann Spaß an der Vorstellung zu finden, Albina bei uns im Keller zu beobachten, in dem Klub, den ich den "meinen" zu nennen pflegte. Wie würde sie sich dort verhalten, und würde sie überhaupt eine Einladung dorthin annehmen?
    Selbst heute, fast zehn Jahre danach, kann ich kaum sagen, woraus unser Mikrokosmos denn eigentlich bestand, der sich donnerstags im Keller eines alten Moskauer Stadtschlösschens versammelte. Am Anfang des 19. Jhds. trafen sich dort Voltairianer, die die Menschheit mit ihren Ideen beglücken wollten, keine hundert Jahre später fanden da fanatische Selbstgeißelungen statt, und zur Zeit der hier zu schildernden Ereignisse war an dieser Stelle - Ironie des Schicksals - das "Zentralinstitut Für Wissenschaftlichen Atheismus" untergebracht (bitte sehr: mit großen Anfangsbuchstaben, um seine Wichtigkeit zu unterstreichen).
    Dort bildete sich unter dem Banner atheistischer Propaganda ein Sammelbecken derer, die, im Geiste der Komsomolzen erzogen, noch zu keinem rechten Glauben gefunden hatten, die aber, nach orthodoxem Sprachgebrauch, "zu Höherem ausersehene Schäfchen" waren - junge Leute also, die sich für die Fragen des wissenschaftlichen Atheismus interessierten. Oder genauer gesagt, für eine vergleichbare Form der Religionskunde. Oder noch genauer, für eine gänzlich unvergleichbare Form der Theologie, wie wir gelegentlich untereinander spöttelten.
    Ich traf mich mit Albina an der Metrostation und führte sie durch verwinkelte Seitengassen zu unserem Keller, wo wir es uns im Zuschauerraum gemütlich machten. Dort warteten wir auf die Vorführung des allfälligen Kinofilms - der dem Gros des sowjetischen Publikums verboten war, weil man sonst einen Ausbruch religiösen Massenwahns meinte befürchten zu müssen. Die "Walpurgisnacht" von Venitschek Erofeew war bisher noch nicht zu sehen, aber ich kannte z. B. schon "Einer flog über das Kuckucksnest" von Milos Forman. An diesem Abend stand "Das Lächeln des großen Verführers" von Damiano Damiani auf dem Programm. Als wir uns nach dem Film bei einer Tasse Kaffee zusammentaten, um unsere Eindrücke auszutauschen, konnte ich viele Anklänge und Reminiszenzen entdecken und vor allem wieder und wieder in Erinnerung rufen, was mich am meisten schockiert hatte, nämlich die Selbstkastration des jungen Fürsten, der von furchtbaren Gewissensbissen gequält wurde, weil er eine blutschänderische Verbindung mit seiner eigenen Schwester eingegangen war. Vom rein künstlerischen Standpunkt aus war allerdings meiner Meinung nach eine der kreativsten und am besten gefilmten Szenen die folgende: Da masturbiert eine andere Bewohnerin jenes kleinen, römischen Hotels, in dem Leute auf eine Audienz bei Seiner Heiligkeit warten - ohne jede Hoffnung, gleichsam auf Godot - weil nur er alleine sie von ihren ansonsten unaustilgbaren Sünden würde lossprechen können. Lediglich für einen kurzen Moment sieht man die Frau auf einem Tisch sitzen, wobei ihre rechte Hand zwischen die Schenkel herabsinkt. Danach aber erscheint auf dem Bildschirm bloß die linke Hand, mit der sie während dessen ihr geliebtes Kätzchen streichelt. Jedes Wachsen der Lust und der Erregung, aber auch ihr zeitweises Nachlassen wegen aufkeimender religiöser Schuldgefühle, jedes neue Aufwallen wilder fleischlicher Begierde, unstillbar trotz ermüdender Vigilien und jesuitischer Kollektivbeichten (vom heiligen Stuhl übrigens mit Bann belegt) - all das fließt ein in die Bewegung der fünf Finger im weichen Fell des Kätzchens. Anhänger der weniger ruhmreichen Stripteaseuse Brigitte Bardot würden beim Finale dieser Szene sicher großes Geschrei anfangen: Die linke Hand, die während des etwa zehnminütigen Vorgangs als Einziges zu sehen war, würgt das arme Tier jetzt derartig, als wolle sie den Saft aus ihm herauspressen.
   . Als Albina und ich endlich auf die Straße hinaustraten, war es schon nach zehn Uhr abends, aber fast immer noch taghell. Es war die Zeit der kurzen Nächte Anfang Juli, dieses heißen, radio-aktiven Monats Juli im Jahre 1986. Mensch und Natur gaben sich wie auf geheime Verabredung einem kollektiven Taumel hin, und ich wollte diesen wunderbaren Abend und das wortlose Einverständnis, das sich zwischen Albina und mir anzubahnen schien, nicht vorzeitig beenden. Während wir im Keller saßen und in fröhlich atheistischer Runde den gerade gesehenen Film besprachen, schwieg sie wieder meistens, doch ich bemerkte, dass die Bilder bei ihr lebendige, ja aufwühlende Eindrücke hinterlassen hatten, die einer vertiefenden Besprechung bedurften, nach Möglichkeit in alter russischer Tradition beflügelt von einem Gläschen Rotwein oder Wodka.
    Bei jeder anderen Gelegenheit hätte ich sie zu einem langen, ruhigen und offenen Gespräch zu mir nach Hause gebeten, nur diente leider mein Zimmerchen am Stadtrand von Moskau gerade als Bleibe für eine schier unglaubliche Anzahl von Verwandten, die sich aus Kiew hierher geflüchtet hatten, vom vierjährigen Knaben bis zum siebzigjährigen Greis, während ich selber provisorisch im Hause meiner Eltern weilte, die meine Anwesenheit mit Albina vermutlich mit etwas Mühe geduldet, uns aber bestimmt keine Ruhe für ein gemütliches Tête-à-tête gelassen hätten. Solche Unterredungen bedürfen jedoch bekanntlich der trauten Zweisamkeit, und sei es inmitten des Menschen-stroms.
    "Du, hör mal", sagte Albina nach einigem Überlegen, nachdem ich ihr die Lage erklärt hatte, "ich kenne da einen besonders hübschen Platz, wo wir uns noch ein Weilchen hinsetzen können." Wir begaben uns also auf die Suche nach diesem hübschen Platz, der sich als das Cafe "Palanga" auf dem Leninprospekt herausstellte.
    "Hallo Alik", begrüßte sie den Kellner, der gekommen war, um zu schauen, wer sich da an dem Tischchen mit der Aufschrift 'Besetzt' niedergelassen hatte (denn freie Plätze gab es in der Sowjetzeit prinzipiell nicht). "Sag mal, hat sich der Igor in letzter Zeit mal wieder blicken lassen?"
    "Nein, der ist schon seit einem Monat hier nicht mehr aufgetaucht", antwortete Alik leicht betreten. Aber trotz der Abwesenheit dieses Igor, von dessen Existenz ich zum ersten Mal hörte, erschien Alik nach kurzer Zeit mit einer Flasche Krimsekt wieder und setzte so das berühmte Gorbatschow'sche Alkoholverbot für uns außer Kraft.
    Nach einer halben Flasche hatte ich schon herausbekommen, dass der oben erwähnte Igor, Kaufmann mittleren Zuschnitts, vor kurzem von einer sich periodisch wiederholenden Hospitation hinter Gittern zurückgekehrt war und nun wieder mit Autos herumdealte, und weiter, dass Albina ihn bis zur Selbstvergessenheit liebte, ihn auch im Knast besucht hatte, und ihn nicht anders als "ihren Mann" zu bezeichnen pflegte. Nach meinem bescheidenen Verständnis war diese Verbindung durch keinerlei Trauschein besiegelt, aber Albina maß solchen Einzelheiten wenig Bedeutung zu, wobei ich ihren possierlichen Variationen zum Thema "Wahrheit" nicht mit kleinkarierten Fragen auf den Grund gehen wollte. Alles, was sie mir in dieser Nacht sagte (und diese sagenhafte Nacht war vor allem eine Nacht vieler Sagen), entsprach nicht völlig der Wahrheit oder war sogar völlig unwahr, aber es hätte wohl alles so sein können, und das bedeutet, für sie hat es wohl so oder so ähnlich sein müssen
    Albina bestand darauf, die erste Flasche selbst zu bezahlen, weil sie mich ja in dieses Lokal geschleppt hatte, und so war es meine Pflicht als Gentleman, gleich eine zweite Flasche zu bestellen. Bei dieser Hitze konnte uns der Champanskoje nicht viel anhaben. Zwar floss das Gespräch jetzt ein wenig langsamer, doch am Ende der zweiten Flasche waren wir an einer Schlüsselszene ihrer Erzählungen angelangt, nämlich der, dass sie mit ihren 19 Jahren nach einer verpfuschten gynäkologischen Operation, wegen einer fehlerhaften Krebs-Diagnose grundlos durchgeführt, bereits gänzlich unfruchtbar war.
    Wir waren nunmehr die einzigen Gäste des schon lange geschlossenen Restaurants, und obwohl wir gleichsam aus "freundschaftlichen Gründen" hier weilten, mussten wir trotzdem allmählich gehen. Ich aber wollte ihre Geschichte zu Ende hören, wofür es verschiedene Gründe gab. Erstens wollte ich ihr aus angeborener Menschenliebe die Möglichkeit geben, sich auszusprechen, zumal eine meiner Maximen lautete: "Die Firma garantiert das Beichtgeheimnis". Und auch jetzt, nach so vielen Jahren, verändere oder verschweige ich diejenigen Details der Geschichte, die der geneigten Leserschaft eine Identifikation meiner damaligen Gesprächspartnerin ermöglichen könnten. Zweitens interessierte mich wirklich, was sie sagte. Und drittens interessierte es mich um so mehr, als sie, gelinde gesagt, gewisse Ungereimheiten und Unklarheiten in ihre Geschichte einwebte, so dass das, was sie gerade berichtete, dem widersprach, was sie soeben noch erzählt hatte. Ihr unterliefen typische Freudsche Versprecher und Verdreher, und während ich Albina lauschte, versuchte ich gleichsam synchron, meine eigene, der Wahrheit nähere Version ihrer Geschichte zu ersinnen, eine Version, die vielleicht nicht absolut den Tatsachen entsprach, ihnen jedoch zumindest eher hätte entsprechen können.
    "Wenn du Zeit und Lust hast, sollten wir noch ein bisschen spazieren gehen", meinte sie. "Es wäre aber super, wenn sich noch was zu trinken organisieren ließe."
    Sicher haben Sie schon vermutet, dass ich durchaus Zeit und Lust hatte. (Wenn ich übrigens "Lust" sage, dann bedeutet das, dass ich gerne einige Stunden Schlaf für ein Gespräch mit meiner Scheherazade opfern wollte, und meint nicht unbedingt die "Lust", die Schahrayar schon vor dem gerade fälligen Märchen genossen hatte.) Fand sich doch im meiner Tasche ganz zufällig noch ein gewisser Geldbetrag, der flugs vom liebenswerten Alik in eine weitere Flasche "Echten Schaumweines" verwandelt wurde, und wir verließen das Cafe. Pack den Champanskoje ein, nimm dein kleines Schwesterlein... "Ich kenne hier in der Nähe eine geheime Stelle", sagte sie. "Meine Insel. Da gehe ich nachts gerne hin. Ganz alleine. Oder mit Freunden. Meistens aber alleine."
    So glitten wir in die Nacht hinaus.
    Letztes Jahr habe ich versucht, unseren damaligen Weg bei hellem Sonnenschein zu wiederholen, doch erst nach anderhalb Stunden fand ich mit großer Mühe diesen zauberhaft kleinen See mit seinem winzigen Inselchen in der Mitte. Aber damals, schlafwandelnd in der Sommernacht... Schon nach wenigen Schritten waren wir dem lauten Getümmel Moskaus entwischt, seinem endlosen Lindwurm von Automobilen, der auch um Mitternacht noch keine Ruhe geben wollte, waren aus diesem wunderlichen Stilmischmasch des Stalinschen Imperiums entschwunden, wo sich zwischen riesigen Kästen aus Beton und Glas gelegentlich alte Stadtschlösschen eingestreut fanden, waren dieser endlosen Straße entflohen, die wohl bis auf den heutigen Tag "Leninskij prospekt" heißt - und befanden uns in einer Märchenwelt ohne jede Spur von menschlichem Leben, wo man höchstens meinen konnte, hier und da einen Waldgeist scheu aus seiner Baumhöhle blinzeln zu sehen oder eine verwunschene Wassernixe beim Bade zu belauschen.
    Tatsächlich spukten solche halbdunklen Visionen am Rande meines Bewusstseins entlang, während ich mit einem Rest von klarem Denken dem Plappern meiner Gefährtin lauschte, die für mich allmählich zum Irrlicht wurde, obwohl sie auch weiterhin die frühere Rolle der Scheherazade hervorragend spielte. In Albina brauste die Sehnsucht nach Theater und Verkleidung. Wollte man ihren Worten Glauben schenken, so war sie auf hochmögende Empfehlung führender Regisseure an der allerersten Filmhochschule des Landes eingeschrieben, verließ dieselbe aber wieder, einerseits aus Gründen der Selbstverachtung, weil sie wegen guter Beziehungen dorthin gekommen war, wo man eigentlich nur seiner Begabung wegen hingehört, andererseits, weil sie die dortigen zaristischen Führungsstrukturen verabscheute. Es sei dem Leser überlassen, die Faktentreue dieser Darstellung zu bewerten, ich selbst vermag nur zu bezeugen, dass sie danach als Sekretärin und Mädchen für alles in einem Moskauer Theater arbeitete. Immerhin habe ich ein paarmal dort angerufen und sie dann und wann tatsächlich an die Strippe bekommen.
    So bewegten wir uns ohne Eile auf schmalem Pfad durch den Park, wobei Albina das Knäuel ihrer mädchenhaften Erzählungen abspulte und es mir vor die Füße legte wie Ariadnes Faden. Aber nein, jeder Vergleich hinkt. Zu Ariadnes Zeiten gab es noch keine psychiatrische Klinik und auch keine für Haut- und Geschlechtskrankheiten, jedoch war Albina ihren eigenen Worten nach schon in beiden stationiert. Diese Tatsache alleine machte mich noch nicht misstrauisch. Schlimmer war, dass für ersteres angeblich "nur" nächtliche Schlaf-Störungen verantwortlich waren - und für das zweite "bloß" die Suche nach einem guten Gynäkologen. Ach, ich weiß nicht, ich weiß nicht...
    Schließlich blieben wir stehen und nahmen ein paar Schlucke aus der fast schon vergessenen Flasche. Danach setzte sie ihre Erzählungen fort, wenn auch eine Oktave höher, wobei ihre Stimme seltsam zu klirren begann und die Intonation eine hysterische Färbung annahm. Ihren eigenen Worten nach verfolgten Unglück und Bosheit sie seit frühester Kindheit. Ihre Oma ließ sie als Kleinkind im Winter fast nackt bei sperrangelweit geöffneten Fenstern alleine in der ungeheizten Wohnung zurück, damit sie krank würde und wieder zu ihrer Mutter käme. Diese empfing dann in der Anfangszeit ungezählte Liebhaber vor den Augen ihrer kleinen Tochter, um sie später, nachdem sie herangewachsen war, an einflussreiche Herren weiterzugegeben. Dabei zahlte es Albina bald ihrer Mutter mit gleicher Münze zurück, indem sie sich die vielversprechendsten Kavaliere angelte, samt deren aussichtsreichen Beziehungen zu Theaterkreisen. Seien sie nun echt oder nur eingebildet, so waren sie doch, Albina zufolge, ausschließlich den Verdiensten in horizontaler Lage zu verdanken. Ich habe ihre Mutter Valentina Stepanova drei- oder viermal gesehen, wobei sie mir, ehrlich gesagt, nicht den Eindruck eines männermordenden Vamps machte. Aber ich war noch nie ein guter Physiognom, und stille Wasser sind bekanntlich tief...
    So ging es weiter. Saufen, Kiffen, Modefummel. Besonders farbenprächtig klang aus Albinas Mund die Geschichte, wie sie von drei solchen Scheißbullen im Männerklo des Kiewer Bahnhofs auf blankem Fußboden vergewaltigt wurde. Sie beendete diese Episode, als wir gerade an dem geheimnisvollen See ankamen. Ihre Stimme tönte mit voller Kraft, sie spannte ihre Muskeln mit Macht und flatterte buchstäblich über versteckt im Wasser liegende Steine und Bretter zu der kleinen Insel, so dass ich ihr kaum zu folgen vermochte. "Da sind wir nun endlich", sagte Albina, nachdem sie jäh zum Stillstand gekommen war. "Los, lass uns trinken!" Und wir leerten die Flasche bis zum letzten Tropfen.
    "Du lieber Himmel, was bin ich für ein Dreckstück!"
    Das klang wie der mächtige Akkord, der das Finale einer Symphonie ankündigt. Nach den Regeln der Kompositionslehre musste nun die Coda folgen. Tatsächlich ließ meine Albina ihren Blick langsam durch die Umgebung schweifen, wendete sich dann erneut zu mir, wobei sie langsam und ohne Hast wiederholte: "Was bin ich für ein Dreckstück!" Mir war, als steuerten wir bereits den ganzen Abend auf diesen Kernsatz zu, und nun, als sie ihn endlich ausgesprochen hatte, schien er ihr neue Kraft zu verleihen.
    "Ich bin ein Rindvieh und eine Schlampe. Alle habe ich verraten, mich selber, meine Freunde, meine Liebhaber, meine Mutter. Es gibt keine Schweinerei, die ich noch nicht begangen hätte. Ich lebe im Dreck, ich bin ein entsetzliches Stück Dreck. Mich braucht man nicht mehr zu teeren und zu federn, ich bin schon selber total eingesaut." So oder ähnlich schimpfte sie weiter. "Ja, ich bin ein mieses Stück Scheiße, ich stecke bis zum Hals im Dreck. Rundherum nur Dreck, nur Scheiße..." Völlig ratlos blickte sie umher. "Ich muss mich säubern, mich reinwaschen. Hier, in meinem geliebten See. Sein heiliges Wasser wäscht mir den ganzen Schmutz von der Seele. Herr, hilf mir und reinige mich!" Sie wiederholte diese Worte wie eine Beschwörung, wie ein Gebet, das ihr helfen sollte, Mut und Entschlossenheit zu finden, um die Tat auszuführen. "Ich weiß noch nicht, welche Tat, aber eine Tat muss es sein. Ja, ich muss mich reinwaschen."
    Seit dieser Nacht sind nun viele Jahre vergangen, aber wenn mir der Titel dieser Erzählung in Erinnerung kommt - "Die Frau in Weiß" - dann sehe ich immer wieder das winzige Inselchen inmitten des kleinen Sees tief im Zauberwald vor mir, zur dunkelsten Stunde einer der hellsten Nächte, und das dünne, zerbrechliche Figürchen Albinas mit ihren unerwartet vollen Brüsten, sehe, wie sie mit langsamen Bewegungen vor mir hertanzt und sich auf elegante Art ihrer schneeweißen Kleider entledigt, wie Jäckchen, Schühchen, Söckchen und zuletzt der Slip nacheinander in die Höhe schweben, im trüben Halbdunkel eine leuchtende Spur hinterlassen und schließlich auf dem schmierigen Lehmboden niedersinken, wobei sie immer und immer wieder ihr geheimnisvolles Mantra wiederholt: "Ich bin schmutzig, ich muss mich reinwaschen!" Schließlich stürzt sie sich kopfüber ins Wasser.
    Hand aufs Herz, ich selbst hätte zwecks ritueller Waschungen ein anderes, bevorzugt fließendes Gewässer ausgewählt (außer vielleicht der unweit dahinströmenden Moskwa). Aber letztendlich war das nicht meine Sache, sondern sie musste selber wissen, welches Nass ihr Reinigung versprach. Noch lange schwänzelte und plätscherte sie darin herum, dann stieg sie heraus, wrang sich das Wasser aus den Haaren und benutzte ihren Rock als Handtuch.
    "Endlich bin ich geläutert. Gott sei Dank, endlich bin ich den ganzen Dreck los." Und summarisch stellte sie fest: "Jetzt will ich mich dir hingeben."
    Eine solche Eröffnung hatte ich nicht erwartet. Natürlich hegte ich von Anfang an schüchterne Hoffnungen, den heutigen Abend betreffend, aber nach allem, was sie mir erzählt hatte... Und hier, auf diesem glitschigen Inselchen, ohne jeden Strauch, ganz zu schweigen von einer Bank, schien mir ihr Ansinnen doch nicht ganz passend. Aus der Verblüffung heraus unterlief mir ein völlig unverzeihlicher Lapsus, denn ich sagte genau das, was ich dachte. Deshalb bekam unser hoch-literarischer Dialog folgende Wendung:
    - Und jetzt gebe ich mich dir hin.
    - Na ja, dann versuch's halt mal.
    Zu Ehren Albinas sei gesagt, dass sie es nicht bei dem Versuch beließ, sondern dass ihrer hehren Absicht durchaus zielstrebige Taten folgten. Wer weiß, vielleicht widmete sie sich auf diesem zwei-und-einhalb Meter langen Stückchen Erde nicht zum ersten Mal vergleichbaren Kunststücken. Aber sei's, wie es sei, sie fand sehr schnell ein geeignetes Fleckchen, begab sich in eine halbliegende Position und zog mich zu sich hin. Mit großer Fingerfertigkeit entledigte sie mich störender Kleidungsstücke und nahm mich in sich auf. Aber seltsam: Während ihre Lippen mich küssten, während sie mich umarmte und streichelte, schien sie selbst in gänzlich anderen Sphären zu schweben. Ihr Blick war nach innen gekehrt, in die Tiefe ihres Ichs, und während ihr jugendlicher Körper sich willig zu mir hinbewegte, blieb ihre Seele doch in ihrer eigenen Welt versunken. Mir schien, als durchlebe sie eine Katharsis, die Wiedergeburt ihrer selbst. Lange spiegelten nur die Augen diese Vorgänge wider, aber schließlich durchlief es ihren ganzen Körper bis in den tiefsten Winkel. Durch unsere Nähe entstand das, was unseren kleinen Köperübungen bis dahin fehlte: ein Anflug tiefer Menschlichkeit. Sie küsste mich auf die Wange und sagte: "Scheint fast, als wäre ich so weit. Und du?
    In dieser Nacht beging ich zwei nicht wiedergutzumachende Fehler. Den ersten habe ich bereits gebeichtet, nun kam der zweite an die Reihe. Ich antwortete Albina wie gewöhnlich, so wie es eben Standard war. Das heißt, ich antwortete ihr, wie ich jeder anderen Frau auch geantwortet hätte, im Vollgefühl der Selbstzufriedenheit und der eigenen Herzensgüte:
    "Ich wusste ja nicht, ob du gerade deine fruchtbaren Tage hast. Ich kann doch nicht einfach..."
    Als ich ihren Gesichtsausdruck sah, zuckte ich zurück, denn ihre Augen wurden feucht, und sie sagte traurig mit bitterem Lächeln:
    "Bei mir musst du darauf keine Rücksicht mehr nehmen."
    "Entschuldige."
    Ich küsste zärtlich ihre Lippen, zog sie fester zu mir her und gab ihr, um was sie gebeten hatte.
    "Danke", lächelte sie
    Der Morgen dämmerte herauf. Wir zogen uns an, streiften den Schmutz von den Kleidern, so gut es eben ging, wateten zum Ufer zurück und nahmen Kurs auf, zunächst durchaus im seemännischen Sinne, stromabwärts der Moskwa entlang, aber dann, als wir beim Universitätshügel angelangt waren, verloren unsere Schritte das Ziel. Wir schlenderten herum und plauderten über dies und das, kamen vom Hölzchen aufs Stöckchen, von Eduards seltsamen Klub auf seine Beziehung zu ihrer Mutter, von Theaterklatsch auf den Kinofilm, den wir gemeinsam gesehen hatten - und mein Stolz wurde weich, er schmolz unter ihren Blicken wie dünnes Eis. Wir liefen einfach so vor uns hin, hielten uns bei der Hand und blieben dann und wann stehen, um uns hingebungsvoll zu küssen.
    Als wir, den Pfad verlassend, das steile Ufer hinaufkletterten, kamen wir ziemlich außer Atem, was wohl am Schlafmangel lag, und fanden endlich eine Bank, auf der wir uns hinsetzten und die Beine ausstreckten. Albina legte den Kopf auf meine Schultern und schloss die Augen. Aufmerksam betrachtete ich ihr Gesicht, ihre Schultern, ihre Beine, glitt dann mit meiner Hand an eine geheime Stelle und ließ sie lange dort liegen. So verweilten wir in seligem Halbdämmer und unschuldiger Wonne, solange es noch nicht ganz hell geworden war und uns keine Frühaufsteher schiefe Blicken zuwerfen konnten - etwa rüstige Rentner in zerknautschten Jacketts auf dem Morgenspaziergang. Dann standen wir auf und liefen zur Metro.
    Plötzlich brach ein Platzregen los. Unerwartet, unerklärlich. Er kam aus dem Nichts, aus heiterem Himmel, und stürzte herab wie ein Wasserfall. Es war, als erhörte jemand, der dort oben für das Wetter zuständig war, meine Weggefährtin und ließ die himmlischen Fluten herabströmen, um ihr erneut das Gefühl zu geben, das sie so sehr erflehte. Wir liefen durch eine dichte Regenwand, buchstäblich durch Wasser hindurch, und kamen durchnässt bis auf die Haut an der Metrostation an, zwei klatschnasse Waschlappen auf Beinen, in die uns diese Sintflut verwandelt hatte, die keine zehn Minuten später genauso abrupt aufhörte, wie sie begann. Wir küssten uns ein letztes Mal und gingen auseinander, sie zur Metro, ich zum Bus.
    Ich erreichte die elterliche Wohnung, zog mir noch im Flur die nassen Klamotten bis auf die Unterhose aus und fiel ins Bett. Meine Mutter kam aus dem Schlafzimmer, musterte mich mit skeptischem Blick und murmelte: "Du hast deiner Mama wieder Schande gemacht, schäm dich was!"
    Ich folgte ihrem Blick und musste gestehen, dass sie Recht hatte: Meine vormals weißen Unterhosen waren mit charakteristischen braunen Flecken beschmiert.
    Oh je, kein schwarzes Schaf wird weiß, man mag es waschen, wie man will. Ich traf Albina nach zweieinhalb Jahren wieder. Sie arbeitete auf einem Polizeirevier als Jungwachtmeisterin...
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